Ich habe die Sucht zu meinem Lebensthema gemacht“, sagt Gunther Wöllenstein. 36 Jahre – und damit sein gesamtes Berufsleben lang – war der 67-Jährige in der Suchtberatung und -therapie des Kreisdiakonieverbands im Landkreis Esslingen (KDV) tätig. Jetzt geht er in den Ruhestand.
Nach dem Studium der sozialen Arbeit und Sozialpädagogik machte Wöllenstein eine Zusatzausbildung als Familientherapeut. Dass er in der Suchttherapie seine Berufung fand, war eher Zufall.
In einem frühen Stadium der Sucht muss die Reha weniger intensiv sein und greift besser.
Gunther Wöllenstein, Suchttherapeut
„Ich wollte auf jeden Fall im therapeutischen Bereich arbeiten“, erzählt er. Bei der Suchtberatung in Nürtingen, die damals vom Evangelischen Kirchenbezirk Nürtingen getragen wurde und seit 2005 vom KDV verantwortet wird, fand er 1988 eine Arbeitsstelle und wechselte aus seiner Heimatstadt Kassel in den Landkreis Esslingen.
Der Arbeitsplatz in der Beratungsstelle für Sucht und Prävention, die neben Nürtingen Standorte in Kirchheim und Leinfelden-Echterdingen hat, habe ihm viele Freiheiten und Gestaltungsmöglichkeiten geboten. „Ich hatte das Gefühl, ich konnte eine leere Tafel beschreiben und im Team vieles ausprobieren.“ Ein Grund, dem KDV bis zum Ruhestand die Treue zu halten und sogar noch ein Jahr dranzuhängen.
Gesellschaft sensibler geworden
Zusätzlich zur Beratung von überwiegend alkoholkranken Menschen baute Gunther Wöllenstein die ambulante Rehabilitation auf. Sie hat den Vorteil, dass Menschen während der Therapie in ihrem beruflichen und sozialen Kontext bleiben können. Zwei Jahrzehnte später betrat man ein neues Feld: Eine Gruppe für Spielsüchtige wurde etabliert, die laut ihrem Leiter Gunther Wöllenstein bis heute eine der wenigen in der Region ist.
Die ambulante Behandlung sei auch deshalb möglich, weil Menschen heute früher in die Beratungsstelle kämen, so Wöllenstein. Eine Ursache sieht er darin, dass die Gesellschaft sensibler auf Suchtprobleme reagiere. „In einem früheren Stadium der Sucht muss die Reha weniger intensiv sein und greift besser“, weiß der Fachmann. Früher habe die Mindesttherapiezeit ein halbes Jahr stationärer Behandlung betragen. Heute komme man oft mit deutlich weniger Zeit aus.
Gerade in der praktischen Arbeit habe er viele schöne Erlebnisse gehabt. Immerhin schaffen es rund 60 Prozent der Klientinnen und Klienten der ambulanten Reha, dauerhaft abstinent zu bleiben. Wenn er einen früheren Klienten sehe, der gesund sei, oder wenn ihm in einer Selbsthilfegruppe jemand begegne, dem er den Absprung nicht zugetraut hätte, seien dies besonders schöne Momente. Aber man müsse auch damit umzugehen lernen, dass Menschen rückfällig werden oder gar an ihrer Sucht sterben.

Vom Saulus zum Paulus
Seine Arbeit beschreibt Gunther Wöllenstein als eine Art Geburtshilfe. „Die Menschen kommen zu uns, um ihr Leben zu ändern. Und ich als Therapeut darf sie in dieser Übergangszeit begleiten und ihnen helfen, wieder ins Leben reinzukommen.“ Für ihn sei es oft ein überwältigendes Wunder, wenn jemand sich von seinen Fesseln befreit. Die Heilung bei anderen psychischen Krankheiten sei evolutionär, nur in der Sucht gebe es solche abrupten Wandlungserlebnisse, auf der Basis einer Abstinenzentscheidung. Fast wie ein biblisches Bekehrungserlebnis, wie die Wandlung des Saulus zum Paulus, habe er zuweilen die Veränderung seiner Klienten empfunden.
Dass er mit dem KDV bei einem kirchlichen Arbeitgeber beschäftigt ist, war dem in einem christlichen Elternhaus aufgewachsenen Therapeuten wichtig. „Ich hatte immer das Gefühl, ich kämpfe für das Seelenheil der Menschen und trete für ein gutes Leben ein.“
Auch ihn selbst hat die Arbeit verändert: „Ich trinke keinen Alkohol mehr, weil ich weiß, dass jeder gefährdet ist, abhängig zu werden. Selbst die stärkste Persönlichkeit kann es treffen. “ Anders als früher sieht er weniger psychologische Gründe als Ursache für eine Abhängigkeit, sondern das Suchtmittel selbst. Dessen Verfügbarkeit sei das Problem. Seine Theorie: „Man wird süchtig, weil das Angebot da ist.“ Deshalb sieht er auch die Legalisierung von Cannabis kritisch. „Eine Verteuerung der Suchtmittel wäre die beste Prävention“, erklärt er. Das sehe man beim Nikotin.
Auch wenn Wöllenstein seine grundlegend optimistische Weltsicht betont, sagt er dennoch: „Die Sucht ist der große Lebensvernichter.“ Sie spiele auch bei Kriegen oder Gewalttaten eine größere Rolle als öffentlich wahrgenommen, ist er überzeugt.
Im Ruhestand kehrt Gunther Wöllenstein jetzt nach Jahrzehnten des Pendelns in seine Heimatstadt Kassel zurück, freut sich auf mehr Zeit für seine Partnerin und die kleine Enkeltochter, Reisen mit dem Wohnmobil und das Radfahren.