Zwischen Neckar und Alb
„Tante Emma“ steht hoch im Kurs

Nahversorgung Es wird zunehmend schwieriger, in den Orten Waren des täglichen Bedarfs einzukaufen. Doch es gibt auch Ideen, wie das Interview mit Stadtplaner Professor Dr. Alfred Ruther-Mehlis zeigt. Von Barbara Gosson

Es entstehen immer mehr Märkte in Gewerbegebieten, während in den Zentren kleinerer Ortschaften kaum noch Waren des täglichen Bedarfs zu bekommen sind. Nach welchen Kriterien suchen sich die Märkte ihre Standorte, und wie viele Menschen müssen im Einzugsgebiet leben?

Alfred Ruther-Mehlis: Die Märkte wollen mindestens 800 Quadratmeter Verkaufsfläche, das geht kaum in Ortskernen. Wo sie sich sonst ansiedeln, regelt der Flächennutzungsplan. Die Gemeinde kann in der Bauleitplanung die Ansiedelung eines Marktes am Rand fördern. Ein Discounter braucht 3500 bis 4000 Menschen in der näheren Umgebung. Die Märkte siedeln sich deshalb gerne zwischen zwei Ortschaften an Durchgangsstraßen an, dann sind sie gut erreichbar für den Wocheneinkauf mit dem Auto. Für die Innenstädte gibt es Konzepte für kleinere Märkte großer Ketten. Diese kommen mit 300 bis 400 Quadratmetern aus. Oder es sind Nischenmärkte, wie Bioläden. Diese richten sich an ein Publikum, das bereit ist, mehr für Lebensmittel auszugeben. Übrigens gibt es einen gesellschaftlichen Trend in diese Richtung.

Das muss man sich leisten können. Was ist mit denen, die das nicht können und auf eine Einkaufsmöglichkeit angewiesen sind?

Ruther-Mehlis: Es gibt gerade im ländlichen Bereich Ansätze, wo sich Ketten etabliert haben, die sich genau darauf spezialisiert und diese Nische besetzt haben. Beispiele dafür sind „Ihr-Kaufmann“, „Emmasbox“ oder „Tante-M“. Auch die Bonus- oder CAP-Märkte, die Arbeitsplätze für benachteiligte Menschen und Menschen mit Behinderung bieten, gehören dazu. Außerdem gibt es Bürgergenossenschaften, die als Multifunktionsflächen möglichst viele Dienstleistungen wie Paket- annahme, Reisebüro oder Versicherungen vereinen. Manche sind an die Rathäuser angedockt, da gibt es im Allgäu Beispiele. Andere Läden werden von Wohnbaugenossenschaften betrieben, die damit den Gebrauchswert der Wohnungen steigern können.

Der Unterensinger „Komm-In-Markt“ war einer der ersten dieser Marktgenossenschaften. Inzwischen gibt es weitere Beispiele. Ist das eine gute Möglichkeit, mithilfe der Bürger die Nahversorgung zu sichern?

Diese Genossenschaften sind aus einem gewissen Leidensdruck heraus entstanden, weil sich die großen Märkte aus der Fläche zurückgezogen haben. Aber es braucht Leute, die das stemmen können, die etwas von Sortiment oder Marketing verstehen. Sie haben einen langen Vorlauf und brauchen Geld. Inzwischen gibt es sogar Beratungsfirmen für Genossenschaftsgründer. Viele funktionieren nur mithilfe von Ehrenamtlichen, aber damit bekommen sie eine wichtige soziale Funktion als Ort des Austausches und schaffen so einen Mehrwert an Lebensqualität, die ein anonymer Discounter nicht bieten kann.

In großen Städten werden die Märk­te aufgestockt. Die Idee ist, dass die Wohnungen Gewinn abwerfen und die Bewohner wahrscheinlich in den Märkten einkaufen. Hier sind die Märkte meist einstöckig.

Zum einen befinden sich die Märk­te häufig in Gewerbegebieten. Zum anderen wollen die Discounter flexibel bleiben. Die Immobilien sind nach 20 Jahren abgeschrieben und können ohne großen wirtschaftlichen Verlust abgerissen werden. Dann kann das unbebaute Grundstück wieder verkauft werden. Die riesigen Flächen samt Parkplätzen können sich die Märkte nur leisten, weil Gewerbeflächen in Deutschland sehr günstig sind. Die großen Parkflächen sollen den Kunden signalisieren, dass sie stets einen Parkplatz in der Nähe bekommen. Daran, dass sich Leute begegnen oder aufhalten, haben sie kein Interesse, sie wollen möglichst viele Kunden durchschleusen.

Das ist ja ein riesiger Flächenverbrauch. Wären die Märkte nicht dort, wo die Menschen leben, in den Orten, besser aufgehoben?

Einen Discounter kann man nur in die Ortsmitte holen, wenn es möglich ist, ein paar Grundstücke zusammen zu legen, damit genügend Fläche da ist. Eine andere Möglichkeit für die Gemeinde wäre, vertraglich zu regeln, dass ein Markt, der vor dem Ort bauen darf, im Ort einen kleineren Markt zusätzlich betreibt.

Sie plädieren dafür, Nahversorgung anders zu denken. Wie denn?

Wir als Institut für Stadt- und Regionalentwicklung (ISfR) haben gemeinsam mit der Stuttgarter Hochschule der Medien einen Forschungsauftrag in der Endrunde beim Bundesforschungsminis- terium laufen, bei dem es um das sogenannte „Remote Working“ geht. Das bedeutet, nicht von zu Hause aus oder im Büro zu arbeiten, sondern an einem Ort, der bei Bedarf Abstand von der Familie bietet oder auch von unterwegs. Das gibt es so ähnlich in Form von Co-Working-Spaces, bei denen Menschen Arbeitsplätze auf Zeit mieten, es geht jedoch darüber hinaus. Wir denken darüber nach, damit weitere Dienstleistungen wie eine verlässliche Kinderbetreuung oder Tagespflege für Ältere zu verbinden. Dazu kommt auch das Thema Einzelhandel. Es könnten beispielsweise Lebensmittel bestellt und nach Feierabend mitgenommen werden. Wir nennen das Work-Life-Blending, Arbeit und Leben gehen ineinander über. Der Grundgedanke ist auch, dass wir immer weniger mobil sind, weil wir im Stau stehen und dadurch immer weniger erledigt bekommen. Also überlegen wir, wie man Wege sparen und Zeit gewinnen kann, auch in der Nahversorgung.

Im Speckgürtel von Stuttgart leben viele nur, weil sie es sich dort in der Stadt nicht leisten können.

Das statistische Landesamt erfasst die Pendlerströme. Dabei wird klar, dass die Wege immer weiter werden, jedoch steigt die Lebensqualität nicht. Die Gemeinden im Großraum Stuttgart überlegen sich daher, wie sie Kaufkraft und Arbeitsplätze zurückholen und dabei den Verkehrsinfarkt vermeiden können. Die Gemeinden in der Metropolregion Stuttgart stellen so eine Art „Zwischenstadt“ dar. Es sind gewachsene Siedlungen, zwischen denen die Grenzen zunehmend verschwimmen. Sie bieten nicht alle Vorteile einer Großstadt, aber auch nicht alle Nachteile einer wirklich ländlichen Region wie auf der Alb.

Welchen Einfluss haben die Städte und Gemeinden auf die Ansiedelung von Märkten?

Die Märkte kaufen ihre Grundstücke von den Gemeinden und diese können Bedingungen für ihre Sondergebiete stellen, sogar in Bezug auf das Sortiment. Sie können beispielsweise einer Erweiterung nur dann zustimmen, wenn an anderer Stelle die Versorgung sichergestellt wird. Oder sie formulieren bei einer Ortskernsanierung die Ziele so, dass Wohnen und Arbeiten kombiniert werden.

Sind kleinere Märkte in den Orten eine Chance für lokale Produzenten?

Ja, natürlich, sie können auf Zwischenhändler verzichten und haben mehr Erlös. Seit Corona schätzen die Kunden das Regionale wieder mehr und die Märkte bieten den Produzenten die Möglichkeit, sich sichtbar zu machen. Die kleineren Märkte können auch auf Kundenwünsche eingehen. Damit sie funktionieren, sollten weitere Anlässe geschaffen werden, die Orte aufzusuchen, an denen die Nahversorgung angeboten wird.

Was halten Sie von Lieferdiensten für Getränke oder Bio-Gemüse?

Diese sorgen vor allem in den Städten dafür, dass der Verkehr zunimmt. Das könnte gebündelter ablaufen, wo die letzten Meter von Fahrradkurieren zurückgelegt werden. Das geht allerdings eher in den dicht besiedelten Städten als auf dem Land. Auf dem Land könnte die Zukunft in standardisierten Lieferboxen liegen, in denen verschiedene Lieferdienste die Waren zentral hinterlegen und die Kunden holen sie ab, beispielsweise auf dem Weg nach Hause.