Eine ganze Stadtgeschichte an einem Abend runterspielen? Das ist ambitioniert.“ Was sich so mancher ohnehin schon gedacht haben mag, spricht das computeranimierte „Schlüsselchen“ öffentlich auf der Bühne aus. Die Theaterspinnerei Frickenhausen, die Stadt Weilheim und die evangelische Kirchengemeinde haben es trotzdem gemeinsam gewagt - und gewonnen: Bei der Premiere von „Der Glöckner von Weilheim - 1250 Jahre auf dem Buckel“ in der Weilheimer Peterskirche gab es tosenden Applaus.
Wer die Theaterspinnerei kennt, weiß: Klassisches, streng aufgebautes Theater und traditionelle Schauspielkunst ist bei ihr nicht zu erwarten. Das gilt auch für das neueste Werk von Jens Nüßle und Stephan Hänlein. Dafür wird den Zuschauern in Weilheim ein einmaliges Potpourri aus Theater und Geschichte, Kirchenmusik und Projektionskunst geboten - und all das an einem ganz außergewöhnlichen Spielort, der spätgotischen Peterskirche.
Zur Handlung: Bauer Benzo (Jens Nüßle) - vor 1250 Jahren geboren - wird samt seiner Magd Smaragda (Susie Rosina Pochert)verflucht: Er soll immer weiterleben und so lange die Glocken der Kirche läuten, bis die Menschen kommen, um sich seine Geschichten anzuhören. Erst dann darf er sterben. In der Gegenwart leben Benzo und Smaragda immer noch in der Kirche. Doch es tut sich etwas: Eine Theatertruppe kommt in die Stadt. Der Regisseur Berthold Herzog (Mario Brutschin) und die Schauspieler Philippina Bauer (Sonja Grenz) und Ede Mörke (Johannes Hauser) sollen ein Stück aufführen. Es entspinnt sich ein Verwirrspiel, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart, Realität und Fiktion vermischen.
Was das Team um Jens Nüßle und Stephan Hänlein in nur drei Wochen Probezeit auf die Beine gestellt hat, kann sich sehen lassen. Auch wenn die gesamte Stadtgeschichte schlichtweg nicht in zwei Stunden passen kann - „Der Glöckner von Weilheim“ ist voll gepackt mit historischen Fakten. Sie reichen von der ersturkundlichen Erwähnung Weilheims im Jahr 769 über die Erhebung zur Stadt bis hin zum Bau der Peterskirche und den beiden Weltkriegen. Geschickt untermalt werden Meilensteine von Projektionen zeitgenössischer Gemälde, Fotografien, Jahreszahlen oder Texten.
Immer wieder hat das Stück große Momente. So zum Beispiel die Szene zum Stadtbrand 1461. Auf der transparenten Projektionsfläche vor dem fast deckenhohen Holz-Glockenturm lodern Flammen auf. Als das Bettlervolk - gespielt von eigens gecasteten Komparsen aus Weilheim und Umgebung - zu löschen beginnt, hält die Stadt den Atem an. In Zeitlupe schöpfen die Frauen Wasser, reichen Eimer weiter und bekämpfen das Feuer. Nicht nur künstlerisch ist der Part gut umgesetzt. Auch die Botschaft ist klar: Rechte haben die „kleinen Leute“ keine. Sie sind es aber, die alles geben, um die Stadt zu retten. Gelungen ist auch die Darstellung des Bauernkriegs, wo sich Karl V., die Bauern und der Schwäbische Bund mit ihren Positionen auf einer Drehscheibe gegenüberstehen.
Ein Genuss sind zudem die Orgeleinspielungen des Weilheimer Kantors Lubos Ihring und des ehemaligen Kirchheimer Bezirkskantors, Ernst Leuze. Für Atmosphäre sorgt der Gesang des evangelischen Kirchenchors Weilheim, der allerdings zuvor aufgenommen wurde und vom Band läuft.
Gelegentlich gleitet das Stück ins Fantastische ab - zum Beispiel, wenn der Mond erscheint und zu sprechen beginnt. Eher sporadisch taucht das Weilheimer „Schlüsselchen“ auf, eine schwäbelnde, comicartige Projektionsfigur, die ans Stadtwappen angelehnt ist und die Vergangenheit zurechtrückt oder das Geschehen kommentiert.
Mit „Der Glöckner von Weilheim“ findet die Theaterspinnerei die Balance zwischen Unterhaltung und Information und beweist, dass sie sich ihrer Verantwortung für die Weilheimer Stadtgeschichte und den besonderen Spielort bewusst ist. Und sie transportiert eine wichtige Erkenntnis: Es sind die Menschen, die Geschichte machen und gleichzeitig die Verantwortung für die Zukunft haben.