Rüstungspolitik
US-Raketen auf deutschem Boden: Erhöhte Sicherheit oder Eskalationspotenzial?

Bei einem Podiumsgespräch in Kirchheim haben SPD-Politiker Nils Schmid und Militärexperte Tobias Pflüger über die ab 2026 geplante Stationierung von US-Waffen in Deutschland diskutiert.

Tobias Pflüger (links), Hans Dörr und Nils Schmid (rechts) beim Podiumsgespräch im Albert-Knapp-Saal. Foto: Tobias Tropper

Zum ersten Mal seit dem Ende des Kalten Krieges sollen im Jahr 2026 wieder US-Raketen auf deutschem Boden stationiert werden – das haben das Weiße Haus und die Bundesregierung am Rande des Nato-Gipfels Anfang Juli bekanntgegeben. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius begründete die Entscheidung damit, dass durch die Stationierung der amerikanischen Waffensysteme eine „durchaus ernstzunehmende Fähigkeitslücke in Europa“ geschlossen werden könne.

Auf Einladung der Friedensinitiative Kirchheim diskutierten der SPD-Bundestagsabgeordnete Dr. Nils Schmid und der Militärexperte Tobias Pflüger von der Informationsstelle Militarisierung Tübingen den polarisierenden Beschluss.

Als Befürworter der Stationierung erklärte Nils Schmid, die Aufrüstung Russlands und das Ende des INF-Vertrags seien eine Verschärfung der Sicherheitslage in Europa. Er verwies in diesem Kontext auf die „Fähigkeitslücke“ in den europäischen Nato-Staaten. Schmid zufolge sei schon lange überlegt worden, wie diese Lücke effektiv geschlossen werden könne. Der Angriffskrieg auf die Ukraine habe diese Überlegung beschleunigt. „Wir haben gesehen, dass Russland den Willen und die Mittel hat, einen konventionellen Landkrieg zu führen“, so Schmid. „Die Frage ist, wie die Nato darauf reagiert.“

Abschreckung und Dialog

Der außenpolitische Sprecher der SPD argumentierte, dass die Stationierung der Waffen Russland etwas Wichtiges signalisiere: Europa würde sich der Lücke nicht wehrlos ergeben und könne mithilfe dieser Raketen im Zweifel auch Russland angreifen.

Er stellte jedoch klar, dass durchaus daran festgehalten werden solle, neue Abrüstungsbemühungen zu unternehmen. Die Stationierung schließe Rüstungskontrolle nicht aus. Im Gegenteil: Militärische Stärke sei sogar Voraussetzung für erfolgreiche Rüstungskontrolle. Er verwies dabei auf einen alten Grundsatz der Nato: „Abschreckung und Dialog“. In der Vergangenheit habe eine Balance zwischen den Waffensystemen sich feindlich gegenüberstehender Nationen bereits den Weg zu Abrüstungsabkommen geebnet. Daher, so Schmid, müsse man Abrüstungsbemühungen aus einer Position der militärischen Stärke heraus unternehmen. 

Zudem argumentierte der Politiker, dass die Stationierung der Raketen durch die USA keine dauerhafte Sache sei, sondern „auf einer rotierenden Basis“ laufen werde. Des Weiteren verzichte die Nato bewusst darauf, mit nuklearer Aufrüstung zu reagieren, wie in den 80er-Jahren. Die drei bodengestützten Systeme, die in Deutschland stationiert werden sollen, seien rein konventionell und nicht nuklearfähig. Auf diesem Wege könne Russland ein wichtiges Signal gesendet werden, ohne in einen nuklearen Aufrüstungswettkampf abzurutschen.

"Ich glaube, wir sehen einer enormen Eskalation entgegen. 

Tobias Pflüger, Miltärexperte

 

Dass in Europa eine Fähigkeitslücke besteht, glaubt Tobias Pflüger nicht, wie er in seinem Plädoyer deutlich machte. Der ehemalige Bundestags- und Europaabgeordnete für die LINKE berief sich dabei auf den früheren Bundeswehr-Oberst Wolfgang Richter. Demzufolge sei Russland durchaus im Besitz von einzelnen Waffensystemen, über die die Nato-Partner in Europa nicht verfügen. Generell seien die Luft- und Seestreitkräfte der Nato denen von Russland jedoch qualitativ und quantitativ überlegen. Interessant sei auch, so Pflüger, dass die Bundesregierung auf die Frage der Bundestagsabgeordneten Jessica Tatti, um welche „Fähigkeitslücke“ es sich denn konkret handle, keine Antwort gegeben habe.

Außerdem äußerte sich Pflüger zu Schmids Aussage, dass die US-Raketen nur für eine begrenzte Zeit in Deutschland stationiert sein würden. Das sei zwar an sich nicht falsch, in Anbetracht der Tatsache, dass die Entwicklung eigener Waffensysteme in Planung sei, die genau diese Funktion übernehmen sollen, handle es sich de facto aber doch um eine langfristige Stationierung.

„Dark Eagle“ bereitet Sorge

Ein weiterer wesentlicher Faktor für Pflüger ist das Preisschild des Projekts. Der wesentliche Kostenpunkt seien an dieser Stelle nicht die US-Raketen, sondern die Finanzierung des eigenen Systems. Es werde insgesamt zu Einsparungen kommen, so Pflüger, die mit großer Wahrscheinlichkeit nicht die Milliardäre, sondern in erster Linie die ärmeren Bevölkerungsschichten betreffen werden.

Der Militärexperte argumentierte zudem, dass sich die Orte, an denen sich die Raketen und die Kommandozentrale befinden werden, zum Angriffsziel für Russland machen. Größere Bauchschmerzen bereite ihm aber die Art der Waffen, die auf deutschem Boden stationiert werden sollen. Neben der Kurzstreckenrakete SM-6 und dem Marschflugkörper des Typs Tomahawk sind auch Hyperschallraketen geplant, die sich aktuell noch in der Entwicklung befinden.

Diese Rakete, auch „Dark Eagle“ genannt, habe eine extrem kurze Vorwarnzeit. „Wenn solche Waffen stationiert werden, ist genau das, was im Kalten Krieg jedes Mal gerade noch gutging, nicht mehr gegeben“, erklärte Pflüger. „Insgesamt kann man davon ausgehen, dass es eine hochexplosive Situation ist, in der jede Waffe eine weitere Eskalation bedeuten würde.“ Erst aufzurüsten und später über Rüstungskontrolle zu sprechen, hält er nicht für sinnvoll: „Verhandlungen sind jetzt notwendig.“

Er kritisierte zudem, dass die Verkündung der Stationierung durch die Bundesregierung in Form einer „kleinen Fußnote“ erfolgt sei. Für ihn bedarf es vor allem einer breiten Diskussion und nicht zuletzt einer umfangreichen Aufklärung darüber, was geschieht und geschehen soll.

New START-Vertrag gefährdet

Hans Dörr von der Friedensinitiative Kirchheim warf ein, dass es wichtig sei, zu bedenken, wie Handlungen vom Gegenüber aufgefasst werden: „Es ist davon auszugehen, dass Russland die Waffen nicht als Verteidigungs- sondern als Angriffswaffen wahrnimmt, mit denen militärische Zentren in Russland ausgeschaltet werden sollen.“ Dies könne Russland motivieren, endgültig aus dem New START-Vertrag auszutreten.

Nils Schmid entgegnete, dass sich der Vorwurf, wenn überhaupt, zunächst an Russland richten müsse, da das Land über ebensolche Waffensysteme verfüge, die alle möglichen Ziele in Nato-Territorium treffen können und die gezielt eingesetzt werden können, um Kommandozentren und Waffensysteme auszuschalten.

Der SPD-Politiker ergänzte, dass sich Deutschland ohnehin schon im Zielgebiet der Russen befände. „Es ist eine Frage der Verteidigungsfähigkeit, der wir uns stärker zuwenden müssen, als wir es in den letzten Jahren getan haben“, so Schmid. Es sei die richtige Entscheidung, dafür auch Geld in die Hand zu nehmen. Sei die Fähigkeitslücke erst einmal geschlossen, gäbe es genug Einhakpunkte, an denen Rüstungskontrolle einen Prozess beenden könne.

Tobias Pflüger vertritt die Position, dass ein derartiger Prozess gar nicht erst ins Rollen kommen dürfe. Der New START-Vertrag sei real gefährdet, und das sei besonders besorgniserregend, weil es sich dabei um das einzige noch verbliebene Abkommen zur Rüstungskontrolle zwischen den USA und Russland handle.

„Ich glaube, wir sehen einer enormen Eskalation entgegen“, warnte der Militärexperte. „Ich kann nur jeden auffordern, gegen die Mittelstreckenraketen mobil zu machen, um diese Stationierung zu verhindern.“

INF- und New START-Vertrag: Zusammenfassung

Was ist der INF-Vertrag?

Der INF-Vertrag war ein historisches Rüstungskontrollabkommen zwischen USA und Sowjetunion aus dem Jahr 1987. Dieser beinhaltete die Zerstörung aller landgestützten Raketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern innerhalb von drei Jahren.

Die USA warf Russland vor, gegen den Vertrag verstoßen zu haben. Russland wies diese Anschuldigung zurück. Im Februar 2019 kündigten die Vereinigten Staaten den Vertrag. Daraufhin stieg auch Russland kurze Zeit später aus dem Abkommen aus.

Was ist der New START-Vertrag?

Das Abkommen trat am 5. Februar 2011 in Kraft und begrenzte die Nukleararsenale Russlands und der USA auf je 800 Trägersysteme sowie 1550 einsatzbereite Atomsprengköpfe. Der Vertrag ist das letzte Rüstungskontrollabkommen zwischen den USA und Russland.

Im Jahr 2021 wurde der Vertrag nach der ursprünglichen Laufzeit von zehn Jahren um weitere fünf Jahre verlängert. 2023 verkündete Putin, dass sich Russland vorerst nicht aus dem Vertrag zurückziehe, seine Teilnahme aber bis auf Weiteres aussetze.