Das Paket mit dem verheißungsvollen Inhalt steht schon Tage zuvor vor der Haustür und sorgt für Vorfreude. Es enthält eine Weinauswahl nebst Infozettel, passenden Menütips und genauer Anweisung, welcher Wein wie gelagert werden muss bis zum großen Tag, dem Tag der Online-Weinprobe. Je nach Typ wird da der Tisch
fein gedeckt. Kerzen brennen und Antipasti stehen bereit. Der wichtigste Gast thront am Kopfende: Es ist der Laptop. Alle haben freie Sicht auf seinen Bildschirm. Denn dort erfolgt gleich ein etwa zweistündiges Entertainment rund um Wein.
Je nach Anbieter probiert man sich durch ein Überraschungspaket oder erkundet eine bestimmte Weinregion. Manche laden noch einen Winzer zur virtuellen Weinprobe ein, andere verfügen selbst über genügend Wissen und Entertainer-Qualitäten, um einen ganzen Abend durchzuhalten.
„Ihr habt zwei Stunden ordentlich Spaß und leckere Weine“, bringt es Michael Malina auf den Punkt. Er ist einer, der von Kirchheim aus zu Online-Weinproben lädt. Mit großem Erfolg: „An manchen Terminen hatte ich 150 Teilnehmer“, sagt er. Damit meint er allein die Zahl der eingeloggten Endgeräte. Wieviele Teilnehmer sich dahinter verstecken, ist unbekannt.
In Zeiten des Lockdowns dürften Kleinstgrüppchen die Regel sein. Malina verschickt deshalb Pakete mit drei Weinflaschen: „Wer alleine ist, kriegt den Wein in den nächsten Tagen noch leer, zu zweit wird’s ein lustiger Event, und für drei reicht’s auch noch“, lautet seine Philosophie. Der Selbstversuch bestätigt: Sitzen zu viele am Tisch, kann sich der Laptop nicht mehr durchsetzen. Die Weinprobe selbst gerät in den Hintergrund – lustig kann der Abend natürlich trotzdem werden.
Bei Michael Malina erfolgt die Kommunikation über einen Chat. So kann er auf konkrete Kundenfragen eingehen. „Die Leute trauen sich hier viel eher als in einer großen Gruppe, ihre Fragen zu stellen“, freut er sich. Der geprüfte Sommelier hat Erfahrung mit Weinproben. Er ist Betreiber der Cocktailbar „Downstairs“ im Alten Haus in Kirchheim und arbeitet zudem als Einkäufer für eine Weinhandelsgesellschaft. Im Downstairs waren auch früher schon Weinproben an der Tagesordnung. Dann jedoch brachte der Lockdown das Geschäft zum Erliegen. „Ich hab mir überlegt, wie ich ein bisschen Geld verdienen könnte“, berichtet der 40-Jährige, wie er zum Anbieter von Online-Weinproben wurde. Vollkasko-Mentalität ist ihm fremd, neue Wege zu beschreiten, empfindet er als Herausforderung.
Und siehe da: Der Erfolg gibt ihm recht. Im Dezember kommt er gar nicht dazu, Angebote für Privatleute auf die Beine zu stellen, denn die Firmen haben längst das Potenzial seiner Online-Weinproben erkannt. „für viele ist das die Möglichkeit einer neuartigen Weihnachtsfeier“, betont der Weinliebhaber, der keine Probleme damit hat, stundenlang unterhaltsam über Wein zu reden.
Für die Kundschaft ist’s ein Event, der in Zeiten mangelnder Zerstreuung als beliebt Abwechselung empfunden wird. Das zeigt sich auch daran, dass das Interesse an den Terminen groß ist, der Verkauf im Nachhinein bewegt sich aber in bescheidenen Dimensionen. Natürlich vermissen Michael Malina und seine Kunden den direkten Kontakt. Dennoch glaubt der Sommelier, dass auch im Jahr 2021 Online-Weinproben gefragt sein werden: „Wir müssen uns mit einer neuen Normalität anfreunden“, fürchtet er und lobt diese Alternative, für die man nicht mal das Haus verlassen müsse. Sogar wer verhindert ist, kommt noch auf seine Kosten: Auf twitch.tv können die Veranstaltungen nämlich noch vier Wochen lang abgerufen werden. Die Weinprobe lässt sich also auch nach Belieben am Sonntagvormittag nachholen.