Anfang vergangener Woche beobachtet eine Frau einen Mann in einem langen weißen Mantel und einer weißen Kapuze auf einem Spielplatz im Nürtinger Stadtteil Braike. Kinder sind keine in der Nähe, dennoch ist der Frau die Situation nicht ganz geheuer. Sie macht mehrere Fotos von der verdächtigen Person, das Gesicht ist gut zu erkennen, genauso wie das Nummernschild seines weißen Motorrollers.
Die Fotos lädt sie im Internet hoch, um Eltern vor dem Mann zu warnen. In den sozialen Medien verbreitet sich die Nachricht von dem Mann im weißen Mantel wie ein Lauffeuer – und die dazugehörige Geschichte klingt schnell ganz anders.
Gewarnt wird vor einem Mann, der sich auf Schulhöfen und an Kindergärten herumtreibt, Kinder anspricht „und sie auch beim Vorbeilaufen anfasst“, heißt es in den sozialen Medien. Das Telefon des Polizeireviers Nürtingen steht nicht mehr still. Meldungen über einen Mann, der Kinder belästigt und sogar entführt häufen sich. Auch im Nürtinger Rathaus gehen eine Vielzahl von Anrufen besorgter Eltern ein.
Am Donnerstag taucht der mysteriöse Mann im weißen Mantel wieder auf, dieses Mal in der Nähe einer Schule in Kirchheim. Wieder geraten unterschiedlichste Meldungen in Umlauf. Aus dem Mann ist mittlerweile ein Pädophiler geworden. Er soll Kindern auflauern, in der Stadt randalieren und sich vor Frauen entblößen, heißt es im Internet.
Die Angst der Erwachsenen geht auch auf die Kinder über. Auf dem Schulhof einer Nürtinger Grundschule macht die Geschichte über den „Kinderfänger“ von Nürtingen die Runde, der Jungen und Mädchen in eine schwarze Kiste packt und sie mitnimmt. Die Polizei nimmt die Ermittlungen auf. Der Mann auf den Bildern im Internet ist kein Unbekannter. Er sei in der Vergangenheit schon häufiger „psychisch auffällig“ gewesen. Eine Gefahr gehe jedoch nicht von ihm aus.
Polizei bittet Nürtingens Oberbürgermeister um Hilfe
Beruhigen lassen sich die besorgten Eltern aber nicht. Unter den vielen Anrufern, die sich beim Polizeirevier Nürtingen melden, sind auch Familienmitglieder des Verdächtigen, die unter den vielen Falschinformationen im Netz leiden. Schon bald kann die Polizei die Vielzahl an Meldungen kaum noch bewältigen. Darum bitten die Beamten den Nürtinger Oberbürgermeister Johannes Fridrich um Hilfe. Er soll auf seinen Kanälen in den sozialen Medien verbreiten, dass von dem Mann keine Gefahr ausgeht. Fridrich kommt der Bitte der Polizei nach, schaltet aber die Kommentarfunktion unter dem Beitrag aus, „damit keine Falschmeldungen in Umlauf kommen“, wie der OB schreibt, dafür ist es zu diesem Zeitpunkt jedoch schon zu spät.
Unterdessen ergeben die Untersuchungen der Beamten, dass sich der Verdächtige tatsächlich in der Nähe von Schulen aufgehalten haben soll, mehr sei jedoch nicht passiert. „Er hat sich weder einem Kind genähert, noch hat er eines angesprochen“, so Polizeisprecher Lutz Jaksche. Einsperren könne man den Mann also nicht, man habe ihm aber seinen Roller weggenommen.
Der weiße Lieferwagen...
Mit Fällen, in denen über das Internet Panik verbreitet wird, bekommt es das Polizeipräsidium Reutlingen fast wöchentlich zu tun. Regelmäßig ist es der weiße Lieferwagen, den irgendjemand vor einer Schule gesehen haben möchte. In den seltensten Fällen gibt es tatsächlich Grund zur Sorge.
Doch der Fall des Mannes im weißen Mantel hat eine besondere Komponente. Denn der Betroffene wurde ohne seine Zustimmung fotografiert und die Bilder, auf denen er deutlich zu erkennen ist, ohne seine Zustimmung ins Internet gestellt. Auch das Kennzeichen seines Rollers ist klar zu erkennen. Online wurde der psychisch kranke Mann innerhalb weniger Tage zu einem pädophilen Kindesentführer erklärt.
Die Person, die die Fotos ins Netz gestellt hat, hat eine Straftat begangen, sagt Polizeisprecher Jaksche. „Wir sind da im Bereich der Verleumdung und üblen Nachrede.“ Das Urheberrecht verbietet es zudem, Fotos einer Person ohne deren Zustimmung zu veröffentlichen. Die Polizei rät dringend vor privaten Fahndungsaufrufen ab und warnt davor, unbestätigte Behauptungen im Internet zu verbreiten. „Wer etwas Auffälliges beobachtet, sollte ausschließlich die Polizei informieren“, so Jaksche. Die Stadt Nürtingen hat mittlerweile auf den Vorfall reagiert und informiert an den betroffenen Schulen und Kitas mit einem Aushang: „Von der Person geht keine unmittelbare Gefahr für die Bevölkerung aus.“ Wer die betroffene Person jedoch auf einem Schulgelände oder dem Areal einer Kita sieht, soll sich an die Polizei wenden.