Von heute auf morgen keine Heimat mehr. Vertrieben, enteignet, entwurzelt. Die Geschichte der Russlanddeutschen steckt voller traumatischer Ereignisse. Die Kirchheimerin Dr. Lilli Gebhard verarbeitet sie in ihrem ersten Lyrikband. „Wer die Vergangenheit nicht kennt, wird die Gegenwart nicht verstehen und kann die Zukunft nicht gestalten“, hat der verstorbene Altkanzler Helmut Kohl einmal gesagt. Ein Satz, der gut zu Lilli Gebhard passt. Seit vielen Jahren hat sich die Lehrerin für Geschichte und Deutsch intensiv mit der Geschichte der Russlanddeutschen befasst, die auch ein Teil ihrer eigenen Familiengeschichte ist.
Unzählige Texte von russlanddeutschen Mennoniten, Angehörige einer evangelischen Freikirche, hat Lilli Gebhard für ihre Dissertation gelesen. Immer wieder ging es dabei um Deportation, Enteignungen und Diskriminierung. Geschildert wurde dies meist mit großer Sachlichkeit. „Ich habe mich immer wieder gefragt, wo sind die Emotionen, wo ist die Trauer“, erzählt Lilli Gebhard.
In ihrer Doktorarbeit streift die Lehrerin diesen Aspekt nur am Rande. Und doch beschäftigt sie die Tatsache, wie wenige Emotionen sich in den Berichten finden, auch nach dem Abschluss der Arbeit nachhaltig. In ihrer Elternzeit reift schließlich der Gedanke, hier nochmals anzuknüpfen.
Keinesfalls jedoch möchte Lilli Gebhard ihre Überlegungen in einem wissenschaftlichen Fachbuch verschwinden lassen. Vielmehr sucht sie emotionale Anknüpfungspunkte. Und so entsteht der erste Gedichtband der Kirchheimerin „Wie Schatten werden“, der vor kurzem beim Manuela Kinzel Verlag Göppingen erschienen ist.
Das schmale Bändchen gibt vor allem der Trauer Raum. Die Gedichte sprechen von den Toten, die die Menschen auf der Flucht zurücklassen mussten. Von verschütteten Erinnerungen, von verdrängten Verlusten. So intensiv manchmal, dass man spürt: Es ist Teil von ihrer ganz persönlichen Geschichte und der ihrer Eltern, die 1977 aus Bischek nach Deutschland gekommen sind.
„Was war, wirft seine Schatten“, heißt es bei Lilli Gebhard an einer Stelle. Doch wie wirken 80 Jahre nach Flucht und Vertreibung die Erlebnisse von Ausgrenzung und Vertreibung noch nach? „Das hat sich ins Bewusstsein eingeprägt“, sagt die Autorin. Aus der Kriegsenkelforschung wisse man, dass verdrängte Traumata weitergegeben werden. Identität, die Selbst- und Fremdwahrnehmung und die Beziehungsfähigkeit - all das werde durch kollektive Ereignisse beeinflusst.
Eine Thematik, die nicht nur für die Russlanddeutschen wichtig ist: „Keine Gruppe ist von solchen Dingen ausgeschlossen“, so Lilli Gebhard. In ihren Gedichten schlägt sie deshalb den Bogen bis hin zu den Flüchtlingen, die heute nach Deutschland kommen - und ähnliche Geschichten in sich tragen.
Sich mit diesen Fragen auseinander zu setzen, dazu möchte sie mit ihren Gedichten anregen. Nur wer die eigene Geschichte kenne, könne auch das Leid der Anderen sehen und aktiv werden, sagt Lilli Gebhard.