Kirchheim. Bier ist längst kein reines Kneipengetränk mehr. Der Gerstensaft hat in den vergangenen Jahren einen Wandel erfahren. Schokoladen-, Lakritz-, Nelken- oder Kräuternoten, Aromen von Zitrus- oder Tropenfrüchten stehen für Biergenuss jenseits industriell gebrauter Massenware. Mit handwerklichem Geschick, viel Leidenschaft und dem Mut, Neues auszuprobieren, tüfteln Kreativbrauereien im Bundesgebiet, aber auch hier in der Region, an neuen und verfeinerten Rezepturen, mit denen sie das Volksgetränk neu interpretieren.
Wer glaubt, dass dies alles nichts mehr mit dem Reinheitsgebot zu tun hat, liegt falsch. Im Gegensatz zu den gängigen Bieren, die jeder aus dem Einzelhandel oder der Gastronomie kennt, kommen bei Trappisten-, Frucht-, Gewürz-, Ale-, Craft-Bieren und Co., die hierzulande gebraut werden, laut Bräu Michael Attinger, „neue wie seltene Hopfen- und Hefesorten, Hopfenmischungen und Hopfen in weitaus größerer Anzahl zum Einsatz.“ Der Hopfen teilt sich grob in zwei Kategorien auf: Bitter- und Aromahopfensorten. Während der erste am Anfang der Kochphase zugegeben wird, kommt Letzterer laut Attinger ziemlich spät hinzu, damit die schönsten Hopfenaromen tatsächlich beim Kunden ankommen.
Auch die Hefe hat es in sich. Dominant sind in Deutschland vor allem untergärige Biere, dabei liefern gerade obergärige Hefen ein weitaus größeres Spektrum an Frucht-Estern. Das eröffnet experimentierfreudigen Brauern im Rahmen des Herstellungsverfahrens eine enorme Geschmacksbandbreite, wie Attinger berichtet. Eine Champagnerhefe beispielsweise verfeinere die Kohlensäureblasen. „Das Bier prickelt sehr feinperlig auf der Zunge“, so der Fachmann.
Im Kommen sind auch Edelbiere. Bislang haben sie vor allem Enthusiasten bei Degustationen, in Kombination mit Schokolade oder einem Fünf-Gänge-Menü, zelebriert, wie Bastian Engelhaus weiß. Doch allmählich erweitert sich dieser Kreis still und leise. Dem Biersommelier des Best Western Premier Hotels Park Consul in Esslingen zufolge durchlaufen derartige Gerstensäfte längere Lager- und Reifezeiten. Das Resultat sei ein höherer Alkoholgehalt bis über zehn Prozent. „Bei manchen Sorten dauert es zwei Jahre, bis sie in den Verkauf gelangen“, berichtet er. „Teilweise kommen unter anderem Barrique- oder Whiskyfässer bei der Lagerung zum Einsatz.“ So lassen sich gehaltvollere und exotischere Geschmacksnuancen erzielen. Darüber hinaus erlaubt der hohe Alkoholgehalt dem Konsumenten den edlen Tropfen länger aufzubewahren.
Die Preisspanne für derartig edle Gerstensäfte weist mittlerweile die gleiche Bandbreite wie beim Wein auf. „Sehr gute Biere sind ab zehn bis 20 Euro pro Flasche zu haben“, weiß Bastian Engelhaus. „Es gibt aber auch Biere, die mehrere Tausend Euro kosten.“ Unabhängig davon begeistert den Experten ebenso wie Liebhaber die Variationsbreite, die sich mit den Basisstoffen Hopfen, Gerste, Malz und Wasser im Rahmen des Reinheitsgebots erzielen lässt.
Ähnlich sieht es Michael Attinger. Längst in Vergessenheit geratene Sorten wie Dampf- oder Rauchbiere, erfahren ihm zufolge „derzeit eine Renaissance und finden unter Konsumenten Anklang.“ Reiner Schaufler, der am Samstag an der Stadtführung „Fachwerkkunst und Braugenuss“ teilnahm, schätzt regional erzeugten Gerstensaft. „Kleine Brauereien stellen ein Bier her, das sich deutlich von der Massenware der großen Erzeuger unterscheidet.“ Der Geschmack sei individueller, wobei er in Verbindung mit einem guten Essen den Wein bevorzugt.
Insbesondere alkoholfreier Gerstensaft liegt laut Bastian Engelhaus im Trend. Verbunden sei diese Entwicklung mit dem Umstand, dass mehr Menschen auf die Promillegrenze am Steuer und eine gesündere Lebensweise achten sowie bewusster essen und trinken. Für Michael Attinger führt diese Entwicklung dazu, dass der Verbraucher auch Bier bewusster konsumiert.
