Die 88 Jahre sieht man ihr nicht an. Völlig selbstständig hält die Frau aus Nürtingen ihren Haushalt in Schuss, und wenn der Nachbar mal im Urlaub ist, mäht sie selbst den Rasen. Doch die Gedanken der älteren Dame, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, kreisen seit Monaten nur noch um ein Thema: „Ich habe Sorge, auf der Straße zu sitzen“, sagt sie: „Ich bin ziemlich am Ende und schlafe schlecht. Es belastet mich sehr.“
Seit bald 30 Jahren wohnt die Frau in ihrer Wohnung in einem Nürtinger Stadtteil. Die Miete habe sie immer pünktlich bezahlt und ein gutes Verhältnis zu den Vermietern gepflegt. Jetzt braucht sie wegen einer Räumungsklage nach Eigenbedarfskündigung eine andere Wohnung. Die Zeit drängt: Am 31. August muss sie draußen sein. Doch wohin? Wie sie sagt, hätten sie und ihre Kinder alle Hebel in Bewegung gesetzt, um eine Wohnung zu finden. „Wir haben auf Anzeigen in der Zeitung reagiert, selbst Anzeigen geschaltet und einen Makler beauftragt.“ Auch den Sozialen Dienst der Stadt Nürtingen und sämtliche Einrichtungen in der Stadt und im Umkreis, die betreutes Wohnen anbieten, hätten sie kontaktiert. Insgesamt habe sie 15 Wohnungen besichtigt. Hinterher gab es entweder Absagen oder sie habe gar nichts mehr von den Vermietern gehört. „Nur eine einzige, ganz kleine Wohnung wurde mir angeboten“, sagt sie kopfschüttelnd: „Das war nur ein Zimmer und ein Schlafzimmer ohne Fenster. Da hätte ich nicht wohnen können.“ Auch deshalb, weil sie ihren sieben Jahre alten kleinen Hund mitnehmen möchte: „Ohne den kann ich nicht leben.“ Er gehöre zur Familie und sei Balsam für ihre Seele.
Sicher kein Einzelfall
„Alte Leute will keiner“, so mutmaßt die Nürtingerin. „Vielleicht hat man Angst, dass sie sterben“, meint sie und zuckt mit den Schultern: „Man bekommt keine Erklärung und keine Antwort. Zeitweise war ich mit den Nerven am Ende, und ich habe weiter gesucht und gesucht.“ Der Kündigung wegen Eigenbedarfs, die sie im Februar 2024 bekommen hatte, habe sie widersprochen. Als Härtefallgründe führte sie ihr hohes Alter, die soziale Bindung im Wohngebiet und das geringe Einkommen an. Bei der Güteverhandlung am Nürtinger Amtsgericht im Dezember sei zwischen beiden Parteien dann die Fristverlängerung bis Ende August vereinbart worden. Jetzt habe sie keine Idee mehr und fühle sich machtlos. An die Zeitung hat sie sich gewandt, um auf das Problem älterer Menschen auf Wohnungssuche aufmerksam zu machen. Sie ist überzeugt davon, dass sie kein Einzelfall ist.
Bei der Stadt Nürtingen sieht man tatsächlich einen Mangel an bezahlbaren und besonders an kleinen Wohnungen mit ein bis zwei Zimmern. Gleichzeitig müssten regelmäßig Menschen, die aus ihren Wohnungen rausmüssten, untergebracht oder weitervermittelt werden, so Sprecher Thomas Krytzner. Immer häufiger seien ältere oder pflegebedürftige Menschen von Wohnungslosigkeit betroffen. Grundsätzlich sei die Stadt Nürtingen verpflichtet, Menschen die ihren Wohnraum verloren hätten und akut von Obdachlosigkeit bedroht seien, unterzubringen. „Für diese Fälle halten wir Kapazitäten vor“, teilt Krytzner mit. Es gebe allerdings einen Mangel an barrierefreien Wohnungen bei gleichzeitig steigendem Bedarf.
Drohe Obdachlosigkeit, rät die Stadt, schnellstmöglich die Obdachlosenbehörde zu informieren, damit eine passende Unterkunft gesucht werden könne. Außerdem sei in Nürtingen die Evangelische Gesellschaft Stuttgart durch den Landkreis Esslingen mit dem Projekt TOP ES betraut. TOP steht für Teilhabe, Orientierung und Prävention. Sie kümmere sich um Fälle von drohender und akuter Wohnungslosigkeit und berate Menschen, bei denen ein Wohnraumverlust bevorstehe. Thomas Krytzner verweist darüber hinaus auf den Sozialen Dienst der Stadt und den Pflegestützpunkt Nürtingen. Er sei vor allem bei älteren Menschen mit Pflegebedarf oder mit Bedarf an besonderem Wohnraum wie betreutem Wohnen eine wichtige Anlaufstelle.
Von einem Amt zum nächsten
Was die ältere Dame auf Wohnungssuche mit der Stadt erlebt hat, bezeichnet sie dagegen als „Odyssee“. Sie sei von einem Amt zum nächsten verwiesen worden. Obwohl sie am liebsten in ihrem Stadtteil bleiben würde, weil sie dort verwurzelt ist, ein gutes Verhältnis zu ihren Nachbarn hat und verschiedene Geschäfte zu Fuß erreichen kann, ist für sie auch vorstellbar, in eine der umliegenden Ortschaften zu ziehen. Eine Zweizimmerwohnung und eine Kaltmiete von 600 bis 650 Euro fände sie optimal. „Dann hätte ich auch noch ein bisschen was zum Leben.“
„Wir haben hier im Speckgürtel von Stuttgart viel zu hohe Mieten und gleichzeitig knappen Wohnraum“, sagt Ute Spannenberger, Geschäftsführerin und Rechtsberaterin des Deutschen Mieterbundes Esslingen-Göppingen. Dass der Bundestag beschlossen habe, die Mietpreisbremse bis Ende 2029 zu verlängern, begrüße sie sehr. „Das haben wir auch gefordert“, so Ute Spannenberger. Der knappe Wohnraum treffe alle Bevölkerungsschichten. Bei 80-Jährigen oder Älteren werde es aber tatsächlich schwierig: „Die Vermieter haben Angst, dass sie Umstände haben.“ Die pessimistische Sicht der alten Dame aus Nürtingen deckt sich dennoch nicht mit der Erfahrung Spannenbergers: „Auch wenn es manchmal dauert, ich erlebe in der Beratung, dass ältere Leute – vielleicht auch aus Mitleid – letztlich doch eine Wohnung finden.“
Die Tochter der betagten Frau ist überzeugt davon, dass ihre Mutter bei der Wohnungssuche alleine völlig aufgeschmissen gewesen wäre. Sie denkt dabei nicht nur an die Online-Anmeldung bei Immobilienportalen, sondern auch daran, dass sie ihre Mutter auf die Wartelisten sämtlicher Einrichtungen für betreutes Wohnen habe setzen lassen und an die zig Antwortschreiben auf Annoncen. Letztlich habe bislang alles nicht gefruchtet. „Was hätte sie gemacht ohne Unterstützung?“, fragt sich die Tochter: „Das hätte ich nie für möglich gehalten.“

