Zwischen Neckar und Alb
Warum saß der Messerstecher nicht in Untersuchungshaft?

Justiz Der Plochinger Messerstecher ist zum Prozess nicht erschienen und spurlos abgetaucht.

Plochingen. Bei der Frage, ob ein Angeklagter noch vor der Urteilsverkündung fliehen und damit einer Gefängnisstrafe entkommen könnte, ist Fingerspitzengefühl gefragt. Im Fall eines Mannes, der im Februar 2020 einen Kontrahenten in Plochingen mit einem Messer im Gesicht verletzt haben soll, hatten sich die Strafverfolgungsbehörden gegen eine Untersuchungshaft entschieden. Nun spricht vieles dafür, dass der Mann sich aus dem Staub gemacht hat. Offenbar wurde dies am Dienstag, als der Angeklagte nicht zum Prozessauftakt vor dem Stuttgarter Landgericht erschien.

Generell müsse die Staatsanwaltschaft einen Antrag auf Untersuchungshaft stellen, erklärt der Pressesprecher des Esslinger Amtsgerichts, Martin Gerlach. Ein Richter entscheide dann, ob dem stattgegeben wird. Wichtig für die Entscheidung sei zum einen, ob es tatsächlich einen erhöhten Verdacht auf die Begehung einer Straftat gebe. Darüber hinaus sei zu prüfen, ob Fluchtgefahr bestehe, Spuren verwischt oder Zeugen beeinflusst werden könnten. „Es ist eine Abwägung“, so Gerlach.

Zum konkreten Fall des mutmaßlichen Täters aus Plochingen wollte er sich nicht äußern. Gegen eine Fluchtgefahr sprachen ein fester Wohnsitz und ein Arbeitsplatz. Für eine Untersuchungshaft hätte eine mangelnde soziale Integration des Angeklagten sprechen können. Der nun zur Verhaftung ausgeschriebene Mann, der zur Tatzeit 24 Jahre alt war, wohnte noch nicht lange in Deutschland. Für die Verhandlung vor dem Landgericht wurde eine Dolmetscherin bestellt. Was dem nun Geflüchteten einen Vorteil verschafft haben könnte, ist der Übergang seines Verfahrens vom Amtsgericht in Esslingen zum Landgericht in Stuttgart. Zunächst wurde der Mann wegen gefährlicher Körperverletzung in Esslingen angeklagt. Erst im Zuge der Verhandlung hat das Gericht dann Erkenntnisse erlangt, die eine Überweisung an das Landgericht notwendig machten. Die Tat hätte wohl nicht mehr als eine gefährliche Körperverletzung, sondern als versuchtes Tötungsdelikt gewertet werden können. Immerhin soll der Angeklagte seinen Kontrahenten nach einem verbalen Streit in einer S-Bahn mit einem Messer an der linken Augenbraue verletzt haben. Für Tötungsdelikte wie Mord oder Totschlag, auch für versuchte, ist das Landgericht zuständig.

Ob nach der Überweisung des Verfahrens an das Landgericht erneut eine Untersuchungshaft erwogen wurde, ist ungewiss. Generell kann bereits ab dem Beginn der polizeilichen Ermittlungen eine Untersuchungshaft angeordnet werden. Auch während des Verfahrens können sich Gründe ergeben, beispielsweise wenn ein Angeklagter eine Flucht plant und die Behörden davon Wind bekommen. „Es ist immer dynamisch“, sagt der Gerichtssprecher Martin Gerlach.

Im Fall des Plochinger Messerangreifers ahnte aufseiten der Justiz anscheinend niemand, dass der Angeklagte sich einen schlanken Fuß machen könnte. Bei seinem Arbeitgeber hat der Mann bereits vor Monaten Urlaub genommen. Seitdem soll er sich dort nicht mehr gemeldet haben. Auch die Plochinger Wohnung ist verwaist.

Wer schon länger ahnte, dass der Angeklagte verschwunden ist, war der Pflichtverteidiger. Er hatte beantragt, sein Mandat abgeben zu dürfen, weil er seinen Mandanten über einen längeren Zeitraum nicht erreichen konnte. Der Antrag wurde geprüft – und abgelehnt. Wo der Angeklagte eigentlich steckt, hat derweil niemand geprüft. Philipp Braitinger