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Was bringt die ICE-Strecke?

Verkehr Etwas mehr als ein Jahr ist es nun her, dass die Neubaustrecke Wendlingen – Ulm in Betrieb gegangen ist. Wie sieht es nun, nach dem ersten Betriebsjahr, aus? Wir haben den Test gemacht. Von Sylvia Gierlichs

Sechs Millionen Menschen sollen im vergangenen Jahr mit einem ICE zwischen München, Köln, Düsseldorf oder Berlin unterwegs gewesen sein. 800 000 weitere seien in den Regionalzug IRE 200 eingestiegen, der im Moment zwischen Wendlingen und Ulm hin und her fährt. Die Zahlen hat die Deutsche Bahn zum Geburtstag der Neubaustrecke Wendlingen–Ulm veröffentlicht. Vor einem Jahr war sie mit Pomp eröffnet worden. Nach zehnjähriger Bauzeit. Doch ist die Neubaustrecke eine Erfolgsgeschichte? Das wollten wir – unrepräsentativ – einmal selbst testen. Und so fuhr ich, jeweils mit einem Ticket für 10,30 Euro (IRE 200) und 24,90 Euro (Einzelfahrt ICE) einen Tag lang zwischen Ulm, Stuttgart und Wendlingen hin und her.

Los ging es an einem Freitag um 6.24 Uhr am Wendlinger Bahnhof. Nur drei Menschen wollten um diese unchristliche Zeit mit dem Regionalzug nach Ulm hochfahren. Einer von ihnen ist Julian Weiner. Er ist oft mit dem Zug unterwegs und will nun ins tiefste Bayern, um Verwandte zu besuchen. Die Regiozüge gefallen ihm gut, auch wenn der IRE 200 eine alte Kiste ist, die sich nach der Anfahrt kurz zurechtruckeln muss. Der Zug endet in Ulm, Weiner muss also umsteigen. Der ICE kommt für ihn jedoch nicht in Frage. Dass der Zug auf der Neubaustrecke nicht an jeder Milchkanne hält, findet der junge Mann gut.

Zug bringt Schüler nach Ulm

Nach 19 Minuten hält der Zug in Merklingen. Und zwar ganz schön lang. 22 Minuten, um genau zu sein. Eine junge Frau steigt mit ihrem Sohn ein. Als einzige. Doch das sei nicht immer so, sagt sie. Ab Merk­lingen sei der IRE um diese Zeit eigentlich immer gut ausgelastet. „Das liegt daran, dass der Zug viel von Schülern genutzt wird, die in Ulm weiterführende Schulen besuchen. Die kommen mit Bussen aus den umliegenden Ortschaften nach Merklingen, deswegen hat der Zug auch so lange Aufenthalt“, berichtet sie.

Während der Zug in Merklingen wartet, donnert ein ICE vorbei. Nicht immer klappt auf der Neubaustrecke alles reibungslos. „Erst kürzlich hatten wir ganz schön Verspätung, denn ein ICE war liegen geblieben und musste zuerst zur Seite geschoben werden, damit der Regiozug weiterfahren konnte“, berichtet die junge Mutter. Nicht das erste Mal, wie sie sagt. Und dann wird es zeitlich ganz schön eng für die Schüler, rechtzeitig zum Unterricht zu kommen.

ICE aus München ist fast leer

In Ulm herrscht auf den Bahnsteigen reges Treiben. Hier merkt man deutlich: Ulm ist ein großer Bundeswehrstandort. Etliche Soldaten treten schon kurz vor 8 Uhr mit Sack und Pack die Heimreise an. Der ICE 1012 aus München, der mich nach Stuttgart mitnimmt, soll um 7.46 Uhr an Gleis 1 abfahren. Ein paar Minütchen Aufenthalt bleiben also in Ulm. Vielleicht, so meine Hoffnung, finde ich ein paar Pendler, die nach Stuttgart hinunterfahren und mir von ihren Erfahrungen berichten wollen. Die Hoffnung ist vergebens. Kein Pendler steigt in Ulm in den Zug.

Bevor der ICE aus München einfährt, nutzt ein Schlafwagen-Zug aus Zagreb das Gleis für einen kurzen Aufenthalt. Dann kommt Leben auf den Bahnsteig. Einige Reisende kommen mit großen Koffern an. Ihre Reiseziele: Düsseldorf. Köln. Frankfurt. Stuttgart? Nein. Sie alle nehmen den ICE das erste Mal. Die Pendler, die – glaubt man der Deutschen Bahn – so händeringend auf die schnelle Verbindung zwischen Ulm und Stuttgart gewartet haben, haben offenbar an diesem Freitag kollektiv einen freien Tag genommen.

App ist unzuverlässig

Überfüllt ist der Zug nicht. Die Anzeige über den Sitzreihen verrät: die meisten Plätze sind erst ab Stuttgart reserviert. Walter Kirchmann ist in München zugestiegen. Er ist geschäftlich unterwegs und fährt ein, zwei Mal im Monat nach Stuttgart. „Ich fahre gerne mit dem frühen Zug. Er garantiert mir eine pünktliche Ankunft“, sagt er. Bei der Rückfahrt allerdings sehe das ganz anders aus. Hier habe der Zug oft schon etliche Verspätungsminuten auf dem Buckel. „Die App lässt einen oft im Stich und so steht man am Bahnsteig und erfährt erst dann, dass der Zug verspätet ankommt“, kritisiert er. Für Geschäftsleute ist das tote Zeit. Die dann auch durch die Hochgeschwindigkeitsstrecke nicht wettgemacht werden kann.

Ich versuche mein Glück mit dem IRE am Nachmittag nochmals. Tatsächlich sind dann auch mehr Menschen unterwegs. Viele von ihnen Pendler. Mit dem ICE allerdings würden sie nicht fahren. Zu teuer sei der, sagen durchweg alle. Leonie und Katharina studieren in Ludwigsburg an der Filmakademie und wohnen unter der Woche in einer WG. Nun sind sie mit Sack und Pack auf dem Weg zurück nach Merklingen. „Wir sind froh, dass es den Interregio gibt. Er erspart es uns, mit dem Bus nach Blaubeuren und von dort mit dem Zug nach Stuttgart zu fahren“, sagen sie. Unzufrieden sind sie aber mit dem Service zwischen Wendlingen und Stuttgart. „Der MEX und die S-Bahn sind unzuverlässig“, sagt Leonie. Und das sagt auch Carolin, die in Stuttgart studiert. Ihre Erfahrung: Sind MEX und S-Bahn ein wenig zu spät, wartet der Regiozug nach Ulm nicht. „Und dann stehen Sie da eine ganze Stunde am Wendlinger Bahnhof, egal bei welchem Wetter. Das ist nicht angenehm“, sagt sie.

Fernverkehr hat Vorrang

Einige Sitzreihen weiter vorne sitzt Franziska. Sie studiert in Tübingen und nutzt den IRE ebenfalls als Wochenend-Pendlerin. Die schnelle Verbindung nach Ulm findet sie gut. Ob die hohen Kosten für den Bau der Strecke diese Bequemlichkeit wettmachen, bezweifelt sie. Vier Milliarden Euro seien schließlich keine Kleinigkeit. Und die Bequemlichkeit hört auf, wenn der Zug am Sonntag die Wochenendpendler wieder von der Alb ins Neckartal hinunterbringt. „Der MEX nach Tübingen ist so proppenvoll, dass man oft stehen muss“, berichtet Franziska. Oft falle der Zug auch ganz aus. Wie Carolin ist auch sie nicht begeistert, eine Stunde auf dem Wendlinger Bahnhof zu verbringen.

Auf der Rückfahrt wird der Zug im Boßlertunnel immer langsamer und kommt auf der freien Strecke bei Weilheim zum Stehen. Dann kommt er, der Grund für die vergeudete Wartezeit. Es ist der ICE nach München. Da er durch den Albvorlandtunnel acht Kilometer lang auf der falschen Seite fahren muss, weil die Überleitweiche erst bei Nabern eingebaut werden konnte, müssen die Regionalzüge warten, da im Moment alle Züge im Albvorlandtunnel das selbe Gleis nutzen. Dass der ICE auf den Regiozug wartet? Undenkbar. „Bei der Deutschen Bahn hat der Fernverkehr Priorität. Das nervt“, sagt ein Tübinger. Denn nicht nur auf der Hochgeschwindigkeitstrasse gilt dieser Vorrang. Auch auf der Strecke Stuttgart–Tübingen warten die Metropolexpress-Züge kurz vor Wendlingen, um den ICE durchzulassen. Viele, die mit dem IRE 200 unterwegs sind, finden diese Priorisierung nicht ideal. Alle wünschen sich einen stabileren Regionalverkehr.

Mein Fazit nach dem Tag auf der Neubaustrecke: Fast alle Züge waren pünktlich. Das ist jedoch nicht die Regel. Der IRE wird gerne genutzt und ist nach Aussage der Passagiere oft ordentlich ausgelastet. Der Fahrpreis ist in Ordnung, doch wer unfreiwillig in Wendlingen strandet, ist frustriert. Kritik gab es am ICE. Zu teuer, zu unpünktlich und für Pendler keine Alternative. Ob die für viel Geld gebaute Strecke hilft, die Verkehrswende zu schaffen? Bei dieser Frage schüttelten etliche der Passagiere nur müde lächelnd den Kopf.