Zwischen Neckar und Alb
„Was wir leisten, ist Versöhnungsarbeit“

Kultur Im Russischen Chor Esslingen singen Deutsche, Russen, Ukrainer und Belarussen. Gemeinsam verurteilen sie Putins Angriff auf die Ukraine. Von Petra Pauli

Mit Entsetzen haben wir vom Überfall Putins in die Ukraine erfahren, den wir auf das Schärfste verurteilen“, heißt es in einer Stellungnahme des Russischen Chors Esslingen. Er ist einzigartig in der Region, selbst in ganz Baden-Württemberg gibt es ein ähnliches Ensemble nur noch in Freiburg. Gesungen werden vor allem russische Volkslieder und sakrale Gesänge, aber auch ukrainische und belarussische, immer im Original, auch wenn viele der Mitglieder gar keine Russischkenntnisse haben. „Wir stehen zusammen“ – das ist die Botschaft, die der Chor allein schon durch seine Zusammensetzung eindrucksvoll unterstreicht. Russen, Ukrainer, Belarussen, Deutsche und weitere Nationen singen zusammen. „Wir lassen uns nicht entzweien. Es ist auch Versöhnungsarbeit, die wir leisten“, sagt der Vorsitzende Rolf Laschet, „niemals war ein russischer Chor so sinnvoll wie jetzt gerade“.

Auch der Ukrainerin Oksana Hermes gibt er Halt. „Ich bedanke mich für die Unterstützung. Ich fühle mich im Chor wie in meiner Familie“, sagt die Sängerin. Der Krieg belastet sie sehr und sie macht sich große Sorgen um ihre Mutter, die in einem kleinen Dorf, 30 Kilometer von Donezk auf der ukrainischen Seite, lebt. „Sie ist sehr krank und ist von Pflegern abhängig. Was passiert, wenn alle fliehen müssen? Sie kann nicht fliehen“, erzählt sie, „davor habe ich sehr große Angst.“ Im Russischen Chor habe man immer einträchtig miteinander gesungen. „Ich hoffe, dass das auch so bleibt. Schließlich verbinden uns doch alle das menschliche Miteinander und diese wunderbare Musik“, sagt die Musiklehrerin. Diesen Zusammenhalt wollte man auch beim Benefizkonzert demonstrieren und Spenden sammeln für die Ukraine.

 

Niemals war ein russischer Chor so sinnvoll wie jetzt gerade.
Rolf Laschet
Vorsitzender des Chors

 

Bereits der spontan organisierte Auftritt vor gut zwei Wochen beim Friedensgebet in der Stadtkirche hatte viele Zuhörer sehr berührt. „Diese Musik geht vom Ohr direkt in die Seele“, beschreibt es Ulrike Gräter, die zum Vorstand des Chores gehört, sie sei Trost für alle, die sich im Angesicht des Kriegs hilflos fühlen. „Singen ist jetzt noch wichtiger als jemals zuvor“, ist sie überzeugt.

Dass alles Russische derzeit aber auch schnell unter Generalverdacht steht, musste die Chorleiterin Alevtina Prokhorenko erfahren. Gleich nach Kriegsbeginn hat die Lübecker Chorakademie ihr die Zusammenarbeit gekündigt. Auch wenn das ein Einzelfall blieb, hat sie diese Reaktion tief getroffen. „Ich bin nicht Putin. Auch ich verurteile den Krieg“, sagt die Russin, die seit 28 Jahren in Deutschland lebt und ukrainische und belarussische Wurzeln hat. Sie hat viele Freunde in der Ukraine. Der Kontakt dürfe nicht abreißen. „Wir müssen zusammenhalten und Menschen bleiben, wir dürfen nicht in Aggression und Hass verfallen, sonst bekommen wir keinen Frieden mehr.“ Der Krieg hat sie dünnhäutig gemacht. Wenn es geht, versucht sie deshalb, politische Diskussionen zu vermeiden. „Wir sind alle noch viel zu verletzt“, sagt sie. Von Facebook hat sie sich abgemeldet, weil sie Hass und Hetze nicht mehr ertragen hat.

Sich umzubenennen oder unter anderem Namen aufzutreten, war für den Russischen Chor keine Option. „Wir sehen den Namen auch als Chance, zu zeigen, dass es Leute gibt, die die Situation völlig anders einschätzen und sich hinter dem Etikett ,Russisch’ nicht immer Verbrecherisches verbirgt“, sagt Rolf Laschet. „Wir lassen uns nicht trennen, und es gibt weiterhin menschliche Begegnungen, die intensiv und herzlich sind“, betont Ulrike Gräter.

Am Abend vor Kriegsausbruch hatten sich Mitglieder des Chors bei einem Zoom-Meeting getroffen. „Vehement habe ich da noch die These vertreten, dass Putin nicht so verrückt sein wird und in die Ukraine einfällt, allein schon wegen der vielen verwandtschaftlichen Beziehungen“, erinnert sich Laschet, der als ehemaliger Russisch-Lehrer am Schelztor-Gymnasium, Osteuropahistoriker und Vorstandsmitglied der West-Ost-Gesellschaft Esslingen als Russland-Kenner gilt. Es kam anders. „Es ist ein komplett Irrsinniger an der Macht“, sagt er heute. Auch für Theodor Schmitz, Gründungsmitglied des Russischen Chors und mit einer Russin verheiratet, war es ein Schock. „Der Krieg ist nicht notwendig, nicht geeignet und nicht verhältnismäßig“, sagt er. Es drohe ein Rückschritt in eine Art Kalter Krieg.

Rolf Laschet rechnet damit, dass die Ukraine bald besetzt sein wird, was aber nicht bedeute, dass Wladimir Putin auch auf lange Sicht gewinnen wird. „Die Ukrainer sind ein stolzes und hitziges Volk“, sagt er. Die Menschen werden weiter aufbegehren und demonstrieren und es könnte einen langen Partisanenkrieg geben. „Wir haben jetzt eine Zeitenwende“, sagt Laschet, nicht nur Europa und Deutschland stünden vor neuen Herausforderungen. Er sieht auch die Kommunen und damit Esslingen in der Pflicht, die städtepartnerschaftlichen Kontakte nach Osteuropa müssten noch intensiver werden.

 

Russischer Chor ersingt fast 10 000 Euro

Auf große Resonanz ist das Benefizkonzert des Russischen Chors Esslingen für die Ukrainehilfe gestoßen. Den Veranstaltern zufolge hatten sich in der Frauenkirche am Sonntag fast 600 Zuhörerinnen und Zuhörer versammelt, um der Musik zu lauschen und damit auch ein Zeichen für Frieden und gegen Aggression zu setzen. Die Veranstaltung stand unter der Überschrift „Нет войне – Njet vojne! – Nein dem Krieg! Texte und Gesänge für ein friedliches Miteinander“. Zu hören waren weltliche und geistliche Gesänge aus der Ukraine, Russland und Belarus.

Die Bereitschaft zu Spenden war groß: Am Ende des Konzerts kam die stolze Summe von 9600 Euro zusammen. Mit dem Geld werden zum einen notleidende Angehörige von Sängerinnen und Sängern in der Ukraine unterstützt, die im Krieg Gewalt, Angst und Kälte ausgesetzt sind. Zum anderen geht ein großer Teil des Geldes, wie im Vorfeld des Konzerts angekündigt, auf das Spendenkonto der West-Ost-Gesellschaft Esslingen. Diese Gesellschaft sammelt Geld für eine Hilfsorganisation in Esslingens Partnerstadt Piotrków. Von Polen aus wird dann ein Hilfskonvoi nach Riwne, der ukrainischen Partnerstadt von Piotrków, fahren. ez