Die „SOS Humanity 1“ ist auf dem Weg zum Hafen von Genua, als Jörg Schmid Gelegenheit hat, von seinem Einsatz zu erzählen. Der Presse-Termin musste immer wieder verschoben werden, zu beschäftigt war der Arzt, der sich zu diesem Zeitpunkt seit vier Wochen an Bord des Rettungsschiffes befindet. 333 Menschen hat die internationale Crew der „SOS Humanity 1“ während der vergangenen vier Wochen aus dem Mittelmehr gerettet, davon 273 allein in der Woche, in der das Gespräch stattfindet. Es gehe ihm gut, sagt Jörg Schmid, auch wenn die Tage voll und lang gewesen seien. „Aber dafür sind wir ja da“, sagt er.
Man könnte die Situation ja politisch ändern.
Jörg Schmid, Arzt an Bord der „SOS Humanity 1“
Jörg Schmid ist 31 Jahre alt. Er stammt aus Weilheim, hat auf dem Schlossgymnasium sein Abitur gemacht und anschließend in Tübingen Medizin studiert. „Es ist für mich ein Privileg, in einem reichen westlichen Land aufgewachsen zu sein, studiert zu haben. Diese Skills will ich einsetzen für die Menschen, die es am meisten brauchen“, sagt Schmid, der sich momentan in der Facharztausbildung zum Allgemeinmediziner befindet. Für seinen Einsatz auf der „SOS Humanity 1“ hat er unbezahlten Urlaub genommen. „Zum Glück habe ich in meiner Klinik einen Chef, der das unterstützt“, sagt er.
Fast alle sind geschwächt
Wenn Geflüchtete in Seenot an Bord des Schiffes kommen, hat Jörg Schmid alle Hände voll zu tun. Beinahe alle der Männer und Frauen sind geschwächt aufgrund der langen Flucht, die sie hinter sich haben. Viele sind dehydriert, haben Hautinfektionen oder chronischen Husten. Auch Folterspuren und Spuren von Gewalt sieht Schmid immer wieder. In aller Regel können er und sein Team, das neben dem Arzt aus einem Rettungssanitäter, einer Hebamme und einem Psychologen besteht, in der kleinen Bordklinik helfen. Auch ein Cultural Mediator, der arabisch spricht, ist an Bord. Bei lebensbedrohlichen Erkrankungen muss eine medizinische Evakuierung veranlasst werden. Zwei Mal ist das während Schmids Einsatz passiert. Bei einem Patienten bestand der Verdacht auf Herzinfarkt, ein anderer hatte ein Multiorganversagen, vermutlich aufgrund der Dehydration.
Das Problem ist, dass die Menschen oft gar nicht wissen, wo sie sind.
Petra Krischok, Pressesprecherin SOS Humanity
Im akuten Fall habe er keine Zeit, über das Schicksal dieser Menschen nachzudenken, sagt Jörg Schmid. „Da ist man im Tunnel der Notfallmedizin“. In ruhigen Momenten überkomme ihn dagegen immer wieder ein Gefühl der Wut und Hilflosigkeit. „Man könnte die Situation ja politisch ändern. Aber jetzt ist das Jahr 2024, und es sterben immer noch Menschen im Mittelmeer“, sagt Schmid. Für ihn liegt der Schluss nahe, dass die Staaten nicht interessiert sind an einer Lösung, „die sichere Flucht mit einschließt“. Im Gegenteil: „Menschen sollen von der Flucht abgehalten werden“, sagt er. Dabei sei Asyl ein grundlegendes Menschenrecht. „Wir sollten es schaffen, das zu verwirklichen“.
Südliches und zentrales Mittelmeer
Die Schiffe von SOS Humanity übernehmen Rettungen im südlichen Bereich des zentralen Mittelmeers in Internationalen Gewässern, in einem Bereich, der von der italienischen Küstenwache nicht mehr abgedeckt wird. Informationen über Boote in Seenot erhält die zivile Seenotrettungsorganisation von der italienischen Küstenwache oder anderen NGOs wie Seewatch, die mit Aufklärungsflugzeugen unterwegs sind, selbst aber nicht retten können. Manchmal gehen Hinweise über den Seenotkanal ein, selten kämen Hinweise der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex. „Die informieren dann eher die libysche Küstenwache, damit sie die Menschen zurückschleppen“, sagt Petra Krischok. Wenn die Flüchtlinge auf See ein Satellitentelefon hätten, würden sie sich im Notfall bei „Alarmphone“ melden, die dann wiederum die NGOs verständigen. „Das Problem ist, dass die Menschen oft gar nicht wissen, wo sie sind. Wir versuchen das dann, anhand der Angaben zu berechnen“, sagt Krischok.
Die NGO muss um Mittel kämpfen
Ob ein Flüchtlingsboot in Seenot rechtzeitig erreicht wird, ist laut Petra Krischok jedoch immer auch Glückssache. Verschiedene Faktoren würden die Rettung behindern. Zum einen gebe es viel zu wenige Schiffe wie die „SOS Humanity 1“, die tatsächlich im Einsatz sind. „Die Schiffe vieler NGOs liegen im Hafen, haben keine Crew“, sagt sie. Auch ihre NGO, die sich hauptsächlich über Spenden finanziert, muss ständig um Mittel kämpfen. Die aktuelle italienische Regierung würde der zivilen Seenotrettung zudem Steine in den Weg werfen. „Uns werden Häfen im Norden zugewiesen, so dass wir es viel weiter haben zu den Menschen, die wir retten wollen“, sagt Krischok. Dennoch ist es SOS Humanity im vergangenen Jahr gelungen, 1101 Menschen aus dem Mittelmeer zu helfen und nach Europa zu bringen.
Jörg Schmid wird nach rund sechs Wochen von Bord gehen und zu seiner Facharztausbildung in München zurückkehren. Für ihn steht jetzt schon fest: Dieser Einsatz für SOS Humanity wird nicht der letzte gewesen sein.
Mehr Informationen über die NGO gibt es auf
www.sos-humanity.org.

