Im Treppenhaus fehlt noch ein Leitungsschlitz: Wenn das erst dem Elektriker auffällt, in dem Moment, in dem er eigentlich schon die Leitungen verlegen soll, ist das ein gewisses Problem. Möglicherweise ist das auf Baustellen ein alltägliches Problem. Aber es kann dann trotzdem zu Verzögerungen führen, die bestenfalls den Tagesplan diverser Handwerker durcheinanderbringen. Schlechtestenfalls bringt es die gesamte Baustelle in Verzug.
Auf einer Großbaustelle wie im Kirchheimer Henriettengarten, wo derzeit 120 neue Wohnungen entstehen, können sich noch viel mehr kleinere Probleme summieren, die den Zeitplan gewaltig durcheinanderbringen. Aber es gibt eine Abhilfe, wie sie noch auf keiner anderen Baustelle vorhanden ist: Wenn der Bauleiter im Treppenhaus ganz nach oben kommt, wo der Schlitz in der Betondecke fehlt, muss er gar nicht selbst bemerken, dass dort noch ein Mangel vorliegt. Er sieht vielmehr einen großen roten Pfeil, der ihn darauf aufmerksam macht. Das Besondere daran: Diesen Pfeil gibt es gar nicht wirklich. Keiner hat ihn an die Decke geklebt. Der Pfeil erscheint als Hologramm im Sichtfeld des Bauleiters, der eine „Holo- Lens“-Brille trägt.
Alle Informationen in einem Bild
Auf der gesamten Baustelle tauchen Informationen auf, drängen sich geradezu ins Sichtfeld. Die Arbeiten, die in nächster Zeit anstehen - sei es im gesamten Baufeld, in einem einzelnen Gebäude oder auch nur in einer einzelnen Wohnung -, sie werden allesamt angezeigt, samt den Namen der Unternehmen, die dafür zuständig sind. Auch Mängel, die es zu beheben gilt, sind einzeln aufgelistet. Der Bauleiter kann das alles lesen und danach entscheiden, ob er irgendwo eingreifen muss.
Die Software, die die Baubranche revolutionieren soll, wird in Weilheim entwickelt und in Kirchheim gleich in der Praxis getestet. „Das kommt aus der Praxis und ist für die Praxis gedacht“, sagt Fabian Caca. Gemeinsam mit Hans-Jörg Fischer ist er nicht nur Geschäftsführer von Fischer Wohnbau & Immobilien, sondern auch der „Projektfabrik“, die „Cerebellis“ entwickelt. Der Name leitet sich von „Cerebellum“ ab, dem Fachbegriff fürs Kleinhirn.
Das Kleinhirn steuert die Motorik und ist zuständig für Koordination, Feinabstimmung, unbewusste Planung. Genau diese Funktion soll die Software für den Bauleiter übernehmen, sogar für die gesamte Baustelle. Fabian Caca: „Das System lernt selbstständig dazu. Es gleicht alle möglichen Daten ab und erinnert uns beispielsweise daran, dass das Wetter letztes Jahr im November in Baufeld 1 für Verzögerungen gesorgt hat. Es fragt dann nach, ob wir das jetzt fürs Baufeld 3 berücksichtigt haben.“
„Cerebellis“ kann auch helfen, etwas digital zu vermessen oder ein Bild „live“ mit den Kollegen im Büro zu teilen. Das Bautagebuch lässt sich vor Ort digital führen und in Echtzeit vernetzen, sodass alle Beteiligten gleichzeitig darauf zugreifen können. Der Nutzer kann damit nicht nur lesen und schreiben, ohne dass er ein Gerät in den Händen hält, er kann auch hören und diktieren.
Wichtig war es, eine Software zu entwickeln, die mehr kann als Fotos und Dokumente abzulegen - die also mitdenkt. Das System hilft aber auch den einzelnen Bauarbeitern, indem es ihnen genau sagt, wo welche Arbeiten zu erledigen sind: „Damit lösen wir auch ein anderes Problem, das auf Baustellen herrscht. Außer Deutsch haben wir als Standardsprachen auch Polnisch und Rumänisch installiert.“ Jede beliebige andere Sprache stellt ebenfalls kein großes Problem dar. Die babylonische Sprachverwirrung gehört auf der Baustelle also endgültig der Vergangenheit an.
„Cerebellis“ soll helfen, Zeit, Geld und Ärger zu sparen. Weil des „Weilheimer Modell“ zugleich mit der Entwicklung auch zum Einsatz kommt, dient der Henriettengarten als Referenzprojekt für die Vermarktung der Software. Am 1. Juli 2021 soll die Software marktreif sein und offiziell allen interessierten Bauunternehmen angeboten werden. Eine große Werbemöglichkeit hat Corona vorerst zunichte gemacht, wie Fabian Caca erläutert: „Wir wollten das auf der Expo Real in München präsentieren. Die wurde dann am Tag vor der Eröffnung abgesagt.“ Auch das wird sich das System merken - und die Macher der „Projektfabrik“ rechtzeitig vor dem nächsten Messetermin an das Problem vom letzten Jahr erinnern.