Die Bedingungen könnten wahrlich besser sein: Bei zwei Grad Lufttemperatur pfeift der Wind Montagmorgen unbarmherzig durch die Kirchheimer Max-Eyth-Straße, und in mehr als 25 Meter Höhe dürfte es noch um einiges kälter sein. Kalte Finger und Windböen können Nicolas Patrix und Assistentin Cécile Peillon aber am wenigsten gebrauchen. Denn sie hängen über den Köpfen der Passanten in mehr als 25 Metern Höhe im Korb einer Teleskop-Arbeitsbühne und ziehen auf der Rathausfassade per Hand Stück für Stück glitzernde Bahnen ab. Die Streifen hatten in den vergangenen knapp vier Monaten die Kunstinstallation „Douze points pour six droites“ des Schweizer Künstlers Felice Varini gebildet und auch weit über Kirchheim hinaus für Beachtung gesorgt.
Sorgen um die Fassade müssen sich die fröstelnden Beobachter wohl nicht machen. „Es handelt sich um eine Spezialanfertigung
und an prekären Stellen liegt noch wie bei einem Sandwich eine Schutzschicht auf der Fassade, damit nichts beschädigt wird“, erklärt Susanne Jakob vom Kunstbeirat der Stadt Kirchheim. Gemeinsam mit dem Architekten Florian van het Hekke ist die Stuttgarter Kunstwissenschaftlerin maßgeblich daran beteiligt gewesen, den renommierten Künstler in die Teckstadt zu holen. Natürlich könne es sein, dass von den Bahnen Spuren auf der Fassade sichtbar sein, allein weil der Staub und Schmutz der vergangenen Monate mit abgezogen wird. „Aber das Rathaus wird eh renoviert“, sagt sie lachend. Die Renovierung wurde sogar eigens für die Kunstaktion verschoben, als nach zweijähriger Planung feststand, dass Varini sein Kunstwerk im Oktober 2022 in Kirchheim installieren würde.
Keine Geranienästhetik
Die Wirkung der Installation bewertet die Initiatorin als sehr positiv. „Es gab eigene Stadtführungen, zwei Abende mit Power-Point-Präsentationen zur Ausstellung, Urban-Sketching-Kurse und Workshops mit Florian van het Hekke“, sagt sie. Es habe auch Besucherinnen und Besucher gegeben, die aus Eigeninitiative Dia-Abende mit Aufnahmen der Strahlen-Installation gemacht haben. „Es war für Kirchheim eine nachhaltige Aktion“, sagt sie. Die Stadt mit ihrem Fachwerkcharme habe durch die Installation zeitgenössische und neue Aspekte erhalten. Durch das zeitgenössische Material sei Tradition mit High-Tech kombiniert worden. „Es muss nicht immer Geranienästhetik sein“, sagt sie.
Falls sich Kunstfreundinnen und -freunde auf Andenken des Kunstwerks oder kleinerer Merchandise-Artikel freuen, wie es Verpackungskünstler Christo gemacht hat, muss sie Susanne Jakob enttäuschen: „Genau das will Varini nicht, er hat vertraglich festgelegt, dass alles entsorgt wird“, sagt die Kunstwissenschaftlerin. Wie Christo und seine Frau Jeanne-Claude aus jedem Fetzen der Verhüllung später neue Kunst zu machen, das liegt dem Schweizer fern, ihm geht es um das Temporäre der Kunst, nicht um Anschlussverwendungen und Optimierung. „Er hält sich bewusst vom Kunstmarkt fern. Es entspricht seiner Haltung, sich nicht an dem Verwertungsbetrieb zu beteiligen“, sagt Susanne Jakob. Und auch das ist Varini: Um die Entsorgung kümmert sich der Künstler selbst, in Kirchheim wird nichts davon im Müll landen. Schon bei der Entwicklung des Materials hat er auf Umweltverträglichkeit geachtet.
Was bleibt, außer zeitweise einigen Spuren der Bahnen auf den Fassaden, ist zumindest ein Film, der ab Donnerstag, 2. Februar in der Stadtbücherei, läuft. Darin geht es um den Aufbau der Installation aus verschiedenen Perspektiven, sowie ein ausführliches Gespräch mit Felice Varini.