Zwischen Neckar und Alb
Wenn vom We­ni­gen noch we­ni­ger bleibt

Hartz IV An­ge­sichts ex­plo­die­ren­der Kos­ten steigt auch im Kreis Esslingen der Beratungsbedarf.

Kreis. Wer Ar­beits­lo­sen­geld II, um­gangs­sprach­lich Hartz IV, be­zieht, kann fi­nan­zi­ell kei­ne gro­ßen Sprün­ge ma­chen: Der Re­gel­satz für ei­nen Sin­gle liegt bei 449 Eu­ro pro Mo­nat. Wenn dann ei­ne Kür­zung oder Rück­for­de­rung vom Job­cen­ter kommt, „wer­den die Pro­ble­me exis­ten­zi­ell“, weiß Frie­der Claus aus der Er­fah­rung. Er en­ga­giert sich bei der Un­ab­hän­gi­gen Hartz-IV-Be­ra­tung der Li­ga der Frei­en Wohl­fahrts­pfle­ge im Land­kreis Ess­lin­gen und kennt die Nö­te der Be­trof­fe­nen nur zu gut.

Schnell kön­ne man sich im Bü­ro­kra­tie­dschun­gel ver­ir­ren: „Ein Ehe­paar mit zwei Kin­dern zog von ei­ner be­eng­ten Zwei-Zim­mer-Woh­nung bei Nür­tin­gen in ei­ne fa­mi­li­en­ge­rech­te Vier-Zim­mer-Woh­nung nach Ess­lin­gen“, schil­dert er ei­nen Fall aus der Pra­xis. Die neue Mie­te be­tra­ge 980 Eu­ro, über­nom­men wür­den aber nur die Kos­ten der al­ten Woh­nung in Hö­he von 590 Eu­ro, „weil der Um­zug an­geb­lich nicht not­wen­dig war“, be­rich­tet Claus. Co­ro­na­be­dingt sei es zu Kurz­ar­beit, Ar­beits­lo­sig­keit so­wie meh­re­ren neu­en Ar­beits­ver­hält­nis­sen des Fa­mi­li­en­va­ters ge­kom­men. „Und weil die Ein­kom­mens­nach­wei­se laut dem Job­cen­ter nicht frist­ge­recht ein­ge­reicht wur­den, for­der­te es 4299 Eu­ro zu­rück“, er­zählt der Be­ra­ter. Geld, das die Fa­mi­lie nicht ha­be. „In ih­rer Ver­zweif­lung kam sie zu uns.“

 

Die Hartz-IV-Regelsätze sind zu niedrig.
Eberhard Haußmann von der Liga der Freien Wohlfahrtspflege

Seit 2013 gibt es die Un­ab­hän­gi­ge Hartz-IV-Be­ra­tung. „Wir wol­len ei­ne Stim­me sein für Men­schen, die sonst kei­ne Stim­me ha­ben“, sagt Eber­hard Hau­ß­mann, der stell­ver­tre­ten­de Vor­sit­zen­de der Li­ga der Frei­en Wohl­fahrts­pfle­ge im Kreis Ess­lin­gen. Man ver­ste­he sich als An­walt der Hil­fe­be­dürf­ti­gen, die mit den kom­pli­zier­ten ge­setz­li­chen Re­ge­lun­gen, den schwer ver­ständ­li­chen For­mu­la­ren und dem bü­ro­kra­ti­schen Auf­wand hoff­nungs­los über­for­dert sei­en. „Ein gro­ßer Teil kann die Be­schei­de gar nicht le­sen oder ver­ste­hen“, sagt Hau­ß­mann. Hier un­ter­stüt­ze man mit Rat und Tat.

Elf Beratungsstellen im Kreis

Die Ar­beit der elf Be­ra­tungs­stel­len im Kreis ist wich­ti­ger denn je, stellt er mit Blick auf die Sta­tis­tik des Jah­res 2021 fest: „Mit 1809 Be­ra­tungs­fäl­len wur­de ein neu­er Höchst­stand er­reicht.“ Zu­sam­men mit den An­ge­hö­ri­gen der Rat­su­chen­den wa­ren 4269 Men­schen von strit­ti­gen Ent­schei­dun­gen des Job­cen­ters be­trof­fen. Sie ha­ben bei­spiels­wei­se Pro­ble­me mit den Wohn­kos­ten (20,9 Pro­zent der Fäl­le), mit den Leis­tun­gen für Bil­dung und Teil­ha­be (19,9 Pro­zent), mit der kor­rek­ten An­rech­nung von Ein­kom­men (8,5 Pro­zent) so­wie mit Leis­tungs­be­rech­ti­gun­gen und -aus­schlüs­sen (14,6 Pro­zent).

Vor al­lem Rück­for­de­run­gen des Job­cen­ters (11,4 Pro­zent der Fäl­le) sei­en ein gro­ßes Pro­blem, sagt Hau­ß­mann. Die Feh­ler­quo­ten in der Be­rech­nung sei­en hoch und für die Be­trof­fe­nen kaum nach­voll­zieh­bar. „Ins­be­son­de­re Men­schen mit schwan­ken­dem Ein­kom­men er­trin­ken in ei­ner Flut von Er­stat­tungs­be­schei­den mit lau­fen­den Rück­for­de­run­gen und ge­ra­ten in vie­len Fäl­len in ei­ne Schul­den­spi­ra­le.“ Dass auch Kin­der für Rück­for­de­run­gen haf­ten, „ge­hört zu den gro­ßen Un­ge­rech­tig­kei­ten von Hartz IV“, kri­ti­siert er die Ge­setz­ge­bung scharf. Kin­der un­ter 14 Jah­ren ma­chen laut Sta­tis­tik gut ein Drit­tel der be­trof­fe­nen An­ge­hö­ri­gen aus.

„Ein we­sent­li­cher Hin­ter­grund der Kon­flik­te ist, dass Hartz IV ‚nor­ma­le‘ Rech­te ent­zieht und Zweit­klas­sig­keit er­zeugt“, be­kla­gen die Be­ra­ter. Sie ver­su­chen, in Streit­fäl­len zwi­schen Hartz-IV-Emp­fän­gern und Job­cen­ter zu schlich­ten, su­chen das Ge­spräch mit dem je­wei­li­gen Sach­be­ar­bei­ter – oft mit Er­folg. „Die Ko­ope­ra­ti­on ver­bes­sert sich kon­ti­nu­ier­lich“, stellt Hau­ß­mann zu­frie­den fest. In 73 Pro­zent der Fäl­le wur­de im ver­gan­ge­nen Jahr ei­ne güt­li­che Ei­ni­gung er­zielt. „Das spart ei­ne gro­ße Zahl an auf­wen­di­gen Rechts­mit­teln und al­len Be­tei­lig­ten Zeit und Kos­ten“, be­tont er. Auch die Durch­set­zung von An­sprü­chen per Wi­der­spruch (18 Pro­zent der Fäl­le) zei­ge in den meis­ten Fäl­len Wir­kung, er­gänzt Claus: So konn­ten im Fall der jun­gen Fa­mi­lie die Rück­for­de­run­gen auf 2659 Eu­ro re­du­ziert wer­den. „Oh­ne Be­ra­tung hät­te die Fa­mi­lie kei­ne Chan­ce ge­habt.“

Doch je­de Ko­ope­ra­ti­on ha­be Gren­zen, manch­mal müs­se eben auch der Rechts­weg be­schrit­ten wer­den, räumt Bri­git­te Chyle, Vor­stands­mit­glied der Frei­en Wohl­fahrts­pfle­ge, ein. Al­ler­dings sei es zu­neh­mend schwe­rer, Rechts­an­wäl­te zu fin­den, die be­reit sei­en, Man­da­te ge­gen Pro­zess­kos­ten­hil­fe zu über­neh­men, be­rich­tet sie. Denn: „Das rech­net sich für sie nicht.“ Die Zahl der Wei­ter­ver­mitt­lun­gen an Ju­ris­ten ha­be sich des­halb von 24 im Jahr 2019 auf 12 im ver­gan­ge­nen Jahr hal­biert.

Liga begrüßt Bürgergeld

Chyle, Hau­ß­mann und Claus rech­nen in die­sem Jahr mit noch mehr Be­ra­tungs­fäl­len. „Nach wie vor sind die Hartz-IV-Re­gel­sät­ze zu nied­rig, und es bräuch­te drin­gend ei­ne Er­hö­hung auf 600 Eu­ro“, for­dern sie. „Wie soll sonst bei den stei­gen­den En­er­gie- und Le­bens­hal­tungs­kos­ten ein Aus­kom­men mög­lich sein?“ Ih­re Be­fürch­tung ist, dass sich vie­le Be­trof­fe­ne beim Job­cen­ter ver­schul­den müs­sen, „wenn vom We­ni­gen noch we­ni­ger bleibt“. Das von der Am­pel­ko­ali­ti­on ge­plan­te neue „Bür­ger­geld“ be­grü­ßt die Li­ga im Grund­satz, sieht im De­tail aber noch Ver­bes­se­rungs­be­darf.  El­ke Haupt­mann

Unabhängige Hartz-IV-Beratung der Liga der freien Wohlfahrtshilfe

Liga Im Landkreis Esslingen ist die Liga ein Zusammenschluss der fünf Wohlfahrtsverbände: Der Paritätische, Arbeiterwohlfahrt (Awo), Caritas Fils-Neckar-Alb, Diakonie im Landkreis Esslingen (DIL) und Deutsches Rotes Kreuz (DRK).

Angebot Das Beratungsangebot ist für Hartz-IV-Bezieher kostenlos. Elf verschiedene Einrichtungen der Liga-Träger bieten im Kreis Anlaufstellen an, die alle vier Regionen der Jobcenter abdecken: Es gibt vier in Esslingen, jeweils zwei in Nürtingen und Plochingen sowie je eine in Filderstadt, Kirchheim und Ostfildern.

Tätigkeit Im vergangenen Jahr wurden 1809 Personen beraten (2019: 1696), darunter 351 Alleinerziehende. Die Zahl der damit verbundenen Angehörigen stieg von 3416 in 2019 auf 4269. Davon waren 1458 Kinder unter 14 Jahren (2019: 952). In 51 Prozent der Fälle ging es um fehlende Informationen zu den Bescheiden. Benötigt wurde aber auch die aktive Unterstützung beim Ausfüllen von Anträgen sowie beim Formulieren von Anträgen.

Der Jahresbericht und weitere Infos zur Liga stehen online unter: www.kreisdiakonie-esslingen.de