Es waren deftige Worte, die der selbst ernannte Fernseh-Restaurantretter Tim Raue in seiner Sendung über ein Lokal in Hülben verlor: „Am Arsch der Welt und ein Stück dahinter“. Das jedenfalls rief Hülbens Bürgermeister Siegmund Ganser beim Besuch von Minister Manfred Lucha in Hülben in Erinnerung. Lucha, Landesminister für Soziales, Gesundheit und Integration, machte im Rahmen seiner Sommertour in der knapp 3200 Einwohner zählenden Gemeinde Station. Der Ort habe zwar seine Probleme, so Ganser, aber auch eine Strategie, wie er diesen begegne – und das mitunter erfolgreich, indem die Gemeinde Daseinsvorsorge mit inzwischen vier Genossenschaften sichere: „Und eine Fünfte ist unterwegs.“
Früher Start mit Energiegenossenschaft
Im Interesse der Genossenschaften agieren auch Anja Roth, Bereichsleiterin Interessenvertretung beim Landesgenossenschaftsverband BWVG, und Bettina Meier-Augenstein, die Fachgebietskoordinatorin. Besonders hoben sie die Vielfalt der Rechtsform und ihre Vorteile hervor: Ärzte, Pflege, Dorfläden, Kinderbetreuung, Winzer und Weingärtner, Energiegenossenschaften – und natürlich Genossenschaftsbanken. Ein besonderer Aspekt sei demzufolge die „Quartiersentwicklung“ und die Idee, Wertschöpfung in der Region zu halten und so dem Allgemeinwohl zuzuführen. „Wir spüren eine große Nachfrage“, so Meier-Augenstein zum Trend.
Die Gemeinde Hülben verfolgte schon früh diesen Ansatz, so Bürgermeister Ganser. 2010 gründete sie eine Energiegenossenschaft, die zwei PV-Anlagen betreibt. Rund 80 Megawattstunden leistet sie, eine Energiemenge, mit der etwa 26 Einfamilienhäuser versorgt werden können. Zudem hält die Genossenschaft Anteile an Onshore-Windkraft eines großen Energieversorgers.
Das Herzstück, der Dorfladen, der 2017 folgte, zähle derzeit 210 Genossenschafter und erwirtschafte rund eine halbe Million Euro Umsatz im Jahr. „Wir schreiben knapp schwarze Zahlen“, so Ganser, der den Vorsitz im Aufsichtsrat innehat. Vor Ort ist es laut dem Bürgermeister nicht nur die Grundversorgung, die der Laden sicherstelle: „Der Laden ist für viele Senioren vor Ort die erste Anlaufstation“. Nunmehr im siebten Jahr. Und auch, wenn die Zahlen für sich sprächen, seien die Bedingungen auf dem Markt hart. „Wir konkurrieren gegen die Großen“, so Ganser. Nicht nur bei Preisen, sondern auch bei Gehältern.
Medizinische Versorgung in genossenschaftlicher Hand
Das Ganser zufolge zweite Vorzeigeprojekt betrifft die medizinische Versorgung. Das medizinische Versorgungszentrum (MVZ) vordere Alb in der Lindenstraße wird seit Juli 2021 genossenschaftlich getragen. Die Genossenschafter sind die Gemeinden Erkenbrechtsweiler, Grabenstetten und Hülben, die Geschäftsführung stellt das Unternehmen Diomedes. Geschäftsführer Martin Felger berichtete, dass es inzwischen 13 MVZ in elf Landkreisen in Baden-Württemberg gebe: „Allerdings ist das MVZ hier in Hülben das erste Zentrum, an dem ausschließlich Kommunen beteiligt sind.“
Die Gründung der Genossenschaft für das MVZ war indes nur der erste Schritt zu einem groß angelegten Projekt. Auf einem Gelände nahe der Hauptstraße realisiert der Bauentwickler Sozial Invest ein Pflegehotel, das als sogenannter „Port“-Standort (patientenorientiertes Zentrum zur Primär- und Langzeitversorgung) unter anderem Tages- und Kurzzeitpflege und ein Therapiezentrum vereint.
Hinzu soll auf dem Areal ein Haus der Gesundheit kommen, in das das MVZ ziehen soll. Dieses Haus soll nach dem Willen der Gemeinde nicht von privaten Investoren gebaut werden. Dafür sei das Vorhaben „nicht geeignet“, so Ganser. Haushaltsrechtlich dürfe die Kommune das Gebäude nicht bauen – so brauche es mindestens eine weitere Baubürger-Genossenschaft.
Hausaufgaben für den Minister
Aus der Erfahrung gab es einige Verbesserungsvorschläge, die die Anwesenden dem Minister unterbreiteten. Es betraf etwa Gesetzesänderungen, um vor Ort mehr Spielraum zu gewähren. So dürften etwa junge Ärzte bei einem MVZ derzeit keine Genossenschafter werden, sagte Martin Felger. Und auch für Nachfolgeregelungen, wenn Mitglieder aus Genossenschaften aussteigen, sei die rechtliche Grundlage unzureichend.
Der Grund, warum die Regeln für Genossenschaften so „ungelenk“ seien, liege darin, dass MVZ nicht als Kapitalanlage missbraucht werden sollen, so Lucha. In seinen Augen sei das „nur noch Kapitalismus“, dem er als überzeugter sozialer Marktwirtschaftler nichts abgewinnen könne. Der Blick müsse mehr auf das Gemeinwohl gelenkt werden. „Wir müssen ganz genau hinschauen, dass Projekte Ihrer Art mehr gefördert und nicht gehemmt werden“, so Lucha zu den Anwesenden.
Bei der Förderung gilt es indes noch dicke Bretter zu bohren. Philip Constantin Müller, Projektleiter des Pflegehotels, riet dazu, Fördertöpfe anzupassen und verstärkt kommunale Genossenschaften in den Blick zu nehmen. Nicht Betteln um Fördergeld sei das Anliegen, sondern den Rahmen so zu legen, dass Einrichtungen gestaffelt und perspektivisch gefördert werden könnten. Insgesamt gelte es auch vonseiten der Politik Menschen zu überzeugen, dass die Anlage in Genossenschaften die „sicherste, solidarischste und ehrlichste Form“ sei.