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Wie Rehkitz Hugo nach Neuffen kam

Tiergeschichte Drei Monate hat Familie Hinze einen jungen Rehbock in Obhut gehabt. Schnell wurde das süße Tier zur neuen Attraktion in Neuffen. Nun soll Hugo wieder in die Freiheit entlassen werden. Von Matthäus Klemke

„Na, du Schlamper“, ruft Tina Hinze dem kleinen Kitzbock zu, der es sich in einigen Metern Entfernung unter einem Baum gemütlich gemacht hat. Sofort springt Hugo – wie das Tier getauft wurde – auf und läuft langsam auf Tanja Hinze und die beiden Besucher von der Zeitung zu. Der schwarze Rucksack des Fotografen ist dem jungen Wildtier nicht ganz geheuer, ansonsten zeigt Hugo keinerlei Scheu und lässt sich gerne streicheln.

Und genau das ist das Problem: „Ein Wildtier dürfte niemals so zutraulich sein“, sagt Hinze. Auch wenn man sich in die großen schwarzen Rehaugen sofort verliebt, ist ein Reh kein Haustier. Die Familie hat Hugo gezwungenermaßen und nur übergangsweise bei sich aufgenommen. „In den Anlaufstellen für Wildtiere gab es keine freien Plätze“, sagt Hinze: „Es wäre schön, wenn er wieder in die freie Wildbahn entlassen werden könnte. Ob das wirklich funktioniert, bleibt abzuwarten. Das kann Jahre dauern.“

Auf der Suche nach Nähe

Als Familie Hinze das Tier im Dezember vergangenen Jahren bei sich aufnimmt, ist Hugo knapp ein halbes Jahr alt, schätzt Tanja Hinze. „Rehkitze kommen in der Regel um den Mai herum auf die Welt.“

Da ihr Ehemann Denis Hinze Jäger ist, kennt sich das Paar mit Wildtieren aus. Daher kam die Familie überhaupt erst für die Aufnahme des Rehs in Frage.

In Kohlberg sei das Rehkitz einer Gruppe Spaziergänger hinterhergelaufen. „Er war schon an Menschen gewöhnt, deswegen gehen wir davon aus, dass er jemandem gehört haben muss. Bei der Aufzucht muss dann aber einiges schiefgelaufen sein“, sagt Hinze. Auch eine offene Stelle am Ohr des jungen Tieres, die auf eine Marke hindeutet, spricht für eine Aufzucht bei Menschen.

Die Spaziergänger in Kohlberg meldeten das Tier bei der zuständigen Jägerin. „Sie war es auch, die ihn Hugo getauft hat “, verrät Tanja Hinze. Bei sich unterbringen konnte die Jägerin das Tier aber nicht. Stattdessen versuchte sie ein anderes, vorübergehendes Zuhause für Hugo zu finden. „Da Jäger untereinander gut vernetzt sind, kam sie auch irgendwann auf uns zu“, sagt Tanja Hinze.

Und weil die Familie durch einen Freund die Möglichkeit hat, Hugo auf einer großen umzäunten Wiese gleich neben ihrem Haus einzuquartieren, erklärt sie sich bereit, das wenige Monate alte Tier bei sich aufzunehmen. „Man darf Wildtiere natürlich nicht einfach so mit nach Hause nehmen, das ist verboten“, gibt Hinze zu bedenken. Deswegen hat man dem Landratsamt Esslingen die Situation sofort geschildert und von dort eine Genehmigung für die vorübergehende Adoption bekommen.

Ansonsten versucht die Familie den ungewöhnlichen Familienzuwachs nicht an die große Glocke zu hängen. „Aber so etwas spricht sich in einem kleinen Ort schnell rum“, sagt Hinze. Ganze Spaziergängergruppen stehen irgendwann vor dem Stückle, um einen Blick auf Hugo zu werfen. Betreten dürfen sie die Wiese aber nicht, denn besonders für Kinder ist das Tier mittlerweile nicht ganz ungefährlich.

Schließlich handelt es sich immer noch um ein Wildtier und das „Teenager-Reh“ wie Tanja Hinze sagt, teste aktuell seine Grenzen aus. Kaum hat Hugo den Besuch auf der Wiese beschnuppert, geht es schon ans Kräftemessen: So fest er kann, drückt Hugo sein Bastgehörn – ein noch mit Fell überzogenes Gehörn – gegen die ausgestreckte Hand. „Rehe haben ein starkes Territorial-Verhalten“, sagt Hinze. Was jetzt noch süß wirkt, kann schnell gefährlich werden. Dennoch kommt es immer wieder vor, dass Menschen Rehkitze mit nach Hause nehmen und sogar in der Wohnung halten, manchmal mit fatalen Folgen: „Ein Fachmann für Rehe erzählte mir, dass ein Reh neulich den Hund von jemandem daheim getötet hätte.“

Wer ein Rehkitz findet, sollte dringend einige Regeln beachten. „Auf keinen Fall sollte man es anfassen“, sagt Hinze. Der Körperkontakt führt dazu, dass das Tier einen fremden Geruch annimmt und von der Rehmutter verstoßen wird. Und auch wenn es oft so wirkt, als sei das Rehkitz alleine: in den seltensten Fällen ist es tatsächlich verwaist.

Wer sich dennoch unsicher ist, ob eine Gefahr für das Tier besteht, sollte die Polizei verständigen. „Dort erfährt man in der Regel die Kontaktdaten des zuständigen Jägers“, sagt Hinze: „Jäger schießen nicht nur Tiere, sondern sind auch für deren Rettung zuständig.“

Wildgehege als nächste Station

Eine große Gefahr für junge Rehe sind nach wie vor nicht angeleinte Hunde. „Erst neulich hat sich hier in der Umgebung ein Reh bei der Flucht vor einem Hund so stark verletzt, dass es von einem Jäger erlöst werden musste.“

Hugo wird nun in die Obhut der Rehkitz- und Tierhilfe Franken übergeben. „Natürlich tut es weh, sich zu verabschieden, aber das Wohl des Tieres steht im Vordergrund“, sagt Tanja Hinze. Im Fränkischen soll Hugo zunächst bei seinen Artgenossen in einem Wildgehege von Menschen entwöhnt werden. „Danach wird ein Versuch unternommen, ihn auszuwildern“, sagt Tanja Hinze. Sie ist jedoch skeptisch, ob das am Ende auch funktioniert. Zu sehr sei das Tier bereits an Menschen gewöhnt. Gutgehen werde es Hugo dennoch: „Falls es nicht funktioniert, wird er wieder in das Wildgehege kommen.“

 

Richtiger Umgang mit Rehkitzen

Rehkitze wirken auf den ersten Blick verwaist. Meist ist die Rehmutter aber nicht weit weg.

Nicht anfassen! Nimmt ein Rehkitz Menschengeruch an, wird es oft von der Mutter verstoßen und verhungert.

Wer auf Nummer sicher gehen will, sollte das Reh aus großer Entfernung beobachten und schauen, ob die Rehmutter zurückkehrt. Professionelle Hilfe gibt es beim zuständigen Jäger. In der Regel kann die Polizei einen Kontakt herstellen.

Auch bei Spaziergängen im Wald sollten Hunde unbedingt angeleint werden.

Wer ein Rehkitz findet, kann sich bei der Rehkitz-Pflegestation von Alexander Dreher unter Telefon (0152) 58 13 18 57 melden. mk