Hochschule Esslingen forscht zum Islamismus
Wie werden Menschen zu Attentätern?

Eine junge Frau soll einen Sprengstoffgürtel tragen. Ein Jugendlicher zündet einen Sprengstoff. Ein ehemaliger Christ schließt sich dem Islamischen Staat (IS) an. Menschen im Netz religiöser Extremisten – ein Team der Hochschule Esslingen hat mit ihnen gesprochen.

Forscht auch zu Themen wie Islamismus: Professor Kurt Möller von der Hochschule Esslingen. Foto: Ines Rudel

Wie geraten Menschen in den Bann von Islamisten? Professor Kurt Möller und vier weitere Mitarbeitende der Hochschule Esslingen gingen der gefährlichen Faszination von religiösem Extremismus nach. Sie haben bundesweit Interviews mit 31 männlichen und 13 weiblichen Personen im Alter von zwölf bis 40 Jahren mit unterschiedlich intensiven Erfahrungen geführt. Die Ergebnisse haben die Wissenschaftler in einem jüngst erschienenen Buch zusammengefasst.

Eine junge Frau berichtete dem Hochschulteam von ihrem inneren Zwiespalt. Die 16-Jährige rieb sich zwischen zwei Rollenbildern auf: Eine selbstständige, vom Mann unabhängige Frau schien die Gesellschaft zu fordern, im Elternhaus wurde das Mädchensein mit Bravheit, Angepasstheit, Zurückhaltung gleichgesetzt. Mitten in solch ungeklärte Identitätsfragen hinein traf sie im Internet auf einen Mann, der sie zu verstehen schien. Doch nach und nach krempelte er ihr Leben um.

Die 16-Jährige musste sich verschleiern und ein Mikro tragen. Alle privaten Gespräche bekam die Internetbekanntschaft so mit. Dann forderte der Mann sie zum Umlegen eines Sprengstoffgürtels auf – andernfalls werde er ihrer Familie etwas antun. Immer tiefer geriet die junge Frau in die fatale Abhängigkeitsspirale zu dem Islamisten. Dann ließ sie ihr Handy irgendwo in der Schule liegen und Klassenkameraden entdeckten zufällig den WhatsApp-Chat mit dem Bekannten. Eltern, Sicherheitsbehörden und Verfassungsschutz wurden eingeschaltet. Die junge Frau fand den Weg heraus aus Manipulation, Gewalt, Fremdkontrolle.

Teenager wird zum Attentäter

Ein Jugendlicher war ein weiterer Gesprächspartner des Esslinger Hochschulteams zum Thema Islamismus. Einsamkeit, fehlende soziale Kontakte, die Suche nach Identifikationspersonen, Autoritätsgläubigkeit und das Ringen um die eigene Männlichkeit wurden zur inneren Zerreißprobe, bis er im Internet auf einen Islamisten stieß. Ein charismatischer, älterer Mann mit rhetorischem Geschick, der dem Jugendlichen das Gefühl des Angenommenseins, der Zugehörigkeit, des Verstandenwerdens suggerierte. Immer größer wurde sein fataler Einfluss auf den Jugendlichen, bis der Teenager zum Attentäter wurde und einen Sprengstoff-Anschlag im öffentlichen Raum mit Verletzten verübte.

Die Einstiegserfahrungen ähneln sich. Kurt Möller spricht vom KISS-Effekt, der zu Abhängigkeiten von islamistischen Gruppierungen führen könne. Das „K“ steht für fehlende oder falsche Kontakte, das „I“ für Integrationsprobleme, das erste „S“ für Sinnfragen. Einsamkeit, fehlende Ansprechpartner für drängende Probleme, Gefühle der Ausgrenzung und des Andersseins, tatsächliche oder so empfundene Diskriminierung könnten empfänglich machen für Gruppen, die eine scheinbare Anerkennung, Selbstbewusstsein und Antworten suggerieren. Das zweite „S“ in „KISS“ steht für die Suche nach einer positiven Sinnlichkeit als Ersatz für die Körperlichkeit, die sich viele Religionsgruppen meinen, versagen zu müssen.

Bei einem 40-Jährigen kamen viele dieser Faktoren zusammen. Im Gespräch mit dem Esslinger Hochschulteam erzählte er von seinen prekären Familienverhältnissen, von dem autoritären Vater, der engen Wohnung, den schulischen Problemen, dem fehlenden Platz im Leben. Der Mann sei eine christliche Karteileiche gewesen, charakterisiert ihn Kurt Möller: „Die Religion spielte zunächst in seinem Leben keine Rolle.“ Islamistische Kreise gaben ihm scheinbar Halt. Er konvertierte, wurde IS-Mitglied, kam auch in Syrien zum Einsatz. Dann kamen Zweifel auf. Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit fiel auf. Davon hätten viele Interviewpartner berichtet, sagt Kurt Möller. Er kann ein Beispiel dafür nennen: Islamistische Kreise würden ihre Anhänger dazu anhalten, während Kinobesuchen bei Kussszenen wegzuschauen. Doch dann würden diese Anhänger erfahren, dass dieselben Menschen außerehelichen Sex hätten. Solche Widersprüche könnten zu einer Abkehr vom Extremismus führen.

Der 40-Jährige fühlte sich auch von der Gewalt abgestoßen. „Er wollte das nicht, hat sich selbst eingeredet, dass er nichts damit zu tun habe und er nur ein Unterstützer, aber kein Täter sei“, beschreibt Kurt Möller den Gefühlszustand des Gesprächspartners. Schließlich wurde der Mann als IS-Sympathisant verhaftet und zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Keiner seiner ehemaligen Freunde besuchte ihn während des Prozesses oder der Haft. Diese Erfahrung habe ein Umdenken eingeleitet, so Kurt Möller. Ein Aussteigerprogramm habe die Abkehr vom Extremismus begleitet. Die Faszination Islamismus verblasste.

Das Forschungsprojekt

Person: Kurt Möller hat Erziehungswissenschaft, Soziologie und Germanistik an der Westfälischen-Wilhelms-Universität Münster studiert und war ab 1989 an der Hochschule Esslingen als Professor für Theorien und Konzepte Sozialer Arbeit tätig. Der 70-Jährige ist zwar emeritiert, unterhält aber immer noch Forschungsprojekte mit Studierenden und Mitarbeitenden der Hochschule Esslingen.

Verweigerer: Das Hochschulteam hat auch mit Menschen gesprochen, die Kontakte zu Islamisten hatten, sich aber frühzeitig distanzierten. Gründe dafür waren laut Kurt Möller ein stabiles soziales Umfeld ohne größere Schwierigkeiten im familiären, beruflichen oder ökonomischen Bereich. Diese Personen hätten über Medienkompetenz und ein quellenkritisches Denken verfügt. Sie hätten auch Menschen in ihrem Umfeld gehabt, mit denen sie ohne eine Angst von Verurteilung über kritische religiöse Fragen reden konnten.

Buch: Das Forschungsprojekt unter dem Titel „Wendezeit“ lief von März 2019 bis Februar 2022 über drei Jahre hinweg. Die Kontakte zu den Interviewten kamen über Beratungsstellen zustande. Das etwa 500 Seiten starke Buch „,Islamismus` – Prozesse und Bedingungen von Involvierung, Distanzierung und Distanzwahrung“ von Kurt Möller, Oliver Honer, Katrin Maier, Florian Neuscheler und Kai Nolde ist im Springer-Verlag erschienen und laut Kurt Möller im Buchhandel erhältlich.