Der Dichter und Pfarrer Eduard Mörike würde sicher schmunzeln, hätte er gewusst, dass sich die Literaturwissenschaft noch 150 Jahre nach seinem Tod über fünf Sätze eines zwar durchaus schönen, aber letztlich belanglosen Briefes den Kopf zerbricht, welchen er am 8. April des Jahres 1832 an seine Verlobte Luise Rau geschrieben hatte.
Bis heute geben diese Zeilen Rätsel auf und treiben Heimatforscher auf die Felsen des Albtraufs gegenüber der Teck. So präzise Mörikes Angaben bei der Lektüre zunächst auch erscheinen mögen, so schwierig ist es, an den inzwischen dicht bewaldeten Steilhängen jenes „Plätzchen“ zu finden, welches ihm „... schon ganz ans Herz gewachsen und lieber als der Breitenstein und alles“ war. „Der spitzige Fels“, heiße dieser Ort, wo die Aussicht zwar beschränkter sei als am Breitenstein, aber – so schrieb der Dichter – „... ein reicher Vordergrund mit Bäumen, phantastisch aufgetürmten Steinmassen – was dort ganz fehlt – macht mir die Aussicht hundertmal genießbarer.“
Am Albtrauf südwestlich des Breitensteins, wo Mörike sein „Plätzchen“ fand, reiht sich Fels an Fels. Keiner jedoch scheint all die vom Dichter geschilderten Charakteristika auf sich zu vereinen: „Zwischen einem Felsen sitzt man ohne alle Gefahr, wenn man nur erst drauf ist, wie in einem Lehnstuhl mit Moose gepolstert, und hängt die Füße gleichsam über die herrliche Galerie hinaus, daß einen die Lüfte des Himmels mit seligem Schauder berühren.“ Von hier, der kargen Hochebene, wo der Frühling erst Wochen später Einzug hält als im Albvorland, blickte er sehnsüchtig auf das bunte Treiben drunten im Tal, auf „Äcker und Felder, schon sauber gepflügt in niedlicher Kleinheit, braun und grün abwechselnd“. Von seinem felsigen Freisitz sah er „die Feldarbeiter wie Ameisen emsig zappeln und die Häuslein des Dorfes nur leicht hingewürfelt“.
Eduard Mörike lebte von Januar 1832 bis Oktober 1833 in Ochsenwang und war hier als Pfarramtsverweser mit der Seelsorge, der Aufsicht über das Schulwesen und der Förderung der Sittlichkeit betraut. Ausgelastet war der umtriebige Schwabe mit diesen Pflichten allem Anschein nach nicht, denn er fand Zeit für seine Dichtkunst und für ausgedehnte Wanderungen. Bereits in den Wochen nach seiner Ankunft zeichnete er erste Landkarten zum Verlauf des Albtraufs zwischen Bissingen und Wiesensteig. Einer seiner vielen Spaziergänge führte ihn zu einem schroffen Weißjurafelsen über dem Neidlinger Tal, welchen er dem Schriftsteller Hermann Kurz Jahre später als seinen „Lieblingsfelsen“ pries, „wo blaue Genzianen in schönster Vollkommenheit wachsen“. Heute ist diese Felsformation in allen Wanderkarten als „Mörikefels“ verzeichnet. Und das mit einigem Recht, kann sie mit dem vom Dichter beschriebenen Ort doch eindeutig identifiziert werden.

Anders verhält es sich mit dem „Spitzigen Fels“, welcher bis heute nicht zweifelsfrei zugeordnet werden konnte. Manchen gilt er als der „echte Mörikefels“, beschrieb ihn der Dichter doch beinah liebevoll und um vieles ausführlicher als den vermeintlich „falschen“. Heinz Sperlich verortete diesen “Spitzigen Fels“ mittels alter Karten unweit des Rauberhofes und berichtete darüber ausführlich in den Blättern des Schwäbischen Albvereins (Heft 3, 1982). Tatsächlich liegt dieser Fels eher südlich des Breitensteins (in 195 Grad) und nicht wie von Mörike beschrieben südwestlich. Auch anderes will an diesem Ort nicht so recht zur Beschreibung des Dichters passen.
Wulf Gatter kann dem von Sperlich identifizierten Felsen daher wenig abgewinnen. Der Ornithologe und Leiter der Forschungsstation am Randecker Maar war beim Studium alter Naturbeschreibungen zum Land um die Teck schon früh auf Mörikes Zeilen gestoßen. Sie ließen ihn bis heute nicht los. Seit Mitte der 1960er Jahre erforscht Gatter den nach Süden gerichteten Vogelzug zwischen Teck, Sattelbogen und Randecker Maar. Wie wohl nur wenige kennt er die Schopfloch-Ochsenwanger Berghalbinsel, wo er jahrzehntelang das Ökologische Lehrrevier der Landesforstverwaltung geleitet hat.
Gegen Sperlichs „ Spitzigen Fels“ spricht laut Wulf Gatter schon dessen Gestalt. Als unbezwingbarer Monolith steigt er an seiner Bergseite neun Meter senkrecht in die Höhe und fällt zum Tal hin gut 20 Meter ebenso schroff ab. Zwar beschreibt Mörike ein etwas beschwerliches Erklimmen „... wenn man nur erst drauf ist“, doch wäre eine Besteigung dieses Felsens nur über Leitern oder mit Kletterausrüstung möglich gewesen. „Dass sich der vielbegabte Mörike auch als Freeclimber betätigt hat, ist nicht überliefert“, scherzt Gatter. Aus diesem Grund hält auch Gisa König, Kustodin des Mörikehauses in Ochsenwang diesen Ort für wenig wahrscheinlich: „Der Fels ist viel zu steil. Für Mörike wäre es zu gefährlich gewesen, ihn zu besteigen.“ Im Jahr 2025, in welchem sich Eduard Mörikes Todestag zum 150. Male jährt und feierlich begangen wird, will auch sie sich nochmals auf die Suche nach dem „echten“ Fels begeben. Im ehemaligen Pfarrhaus in Ochsenwang hält sie seit vielen Jahrzehnten die Erinnerung an den Dichter und sein Werk wach.
Mörikes frühe Karte der Ochsenwanger Berghalbinsel (links) zeigt diese noch völlig falsch. Er orientierte sich hier an der „Charte von Schwaben“ aus dem Jahr 1800 von Johann Gottlieb Bohnberger. Bei der Karte rechts stützt sich Mörike schon auf eigene Beobachtungen zum Verlauf des Albtraufs. Quelle der Karten: Deutsches Literaturarchiv Marbach
Auch den von Mörike beschriebenen Sitzplatz „... einem Lehnstuhl mit Moose gepolstert“ gibt es an dem von Heinz Sperlich favorisierten Felsen nicht. Er will diesen im engen Graben direkt hinter dem Monolith erkannt haben, doch von dort unten bietet sich keinerlei Aussicht ins Tal. Selbst am Hang oberhalb des mächtigen Felsens wird die Sicht noch stark durch denselben beschränkt. Ebenso gibt es hier keine hochgelegenen Sitzplätze, welche auch nur entfernt an des Dichters Schilderung erinnern, schrieb dieser doch, er hänge „... die Füße gleichsam über die herrliche Galerie hinaus, daß einen die Lüfte des Himmels mit seligem Schauder berühren.“ Es sind vor allem diese Zeilen, die gegen den Ort sprechen. Weshalb lässt Sperlich diesen wichtigen Teil von Mörikes Beschreibung unerwähnt?
Auch weckt die unmittelbare Nachbarschaft zum Rauberhof Zweifel, dass Mörikes liebgewonnenes Plätzchen hier gelegen haben könnte. Ungestört war man hier nicht. Nur eine 150 Meter breite Viehweide trennt den Felsen von den Gehöften des einstigen Wirtschaftshofes der nahen Diepoldsburg. Jeder Windhauch hätte Wortfetzen der Gespräche, der Lieder und des Gezänks von Stallburschen und Mägden zu ihm herübergetragen, vom Blöken der Schafe, dem Grunzen der Schweine und Jammern der Kälber ganz zu schwiegen. Ob Mörike hier Inspiration für seine Dichtkunst und für empfindsame Naturbeschreibungen hätte schöpfen können?
So einsam und wildromantisch wie heute war es zu des Dichters Zeiten hier sicherlich nicht. Im 19. Jahrhundert dürfte der Fels völlig frei gestanden haben. „Am Albrand gab es damals keine alten Wälder, schon gar nicht so nah an einem Wirtschaftshof“, ist sich Gatter sicher. „Die Hänge waren Weideland. Seit Jahrhunderten wurde hier jeder größere Baum als Bau- oder Feuerholz gefällt“. Seit dem späten Mittelalter herrschte in vielen Regionen Süddeutschlands akuter Holzmangel. Noch Fotografien aus der Zeit um 1920 zeigen den Teckberg nur von niederem Jungwald bedeckt. Die Wielandsteine bei Oberlenningen waren in jener Zeit von offenen Heideflächen umgeben. Die Beschreibung des Oberamts Kirchheim vom Jahr 1842 stützt diese These und weiß zu berichten, dass „die frischen kräftigen Buchenwälder“ die Steilhänge der Alb nur „an manchen Stellen vom Fuß bis zur Höhe bekleiden“. Heute finden sich hier durchgehend hundertjährige Wälder.
Auch unbeobachtet wäre man hier nicht gewesen. Am „Spitzigen Fels“ wurde bis in jüngere Zeit der Müll des Hofes nebst Tierkadavern entsorgt, noch heute finden sich an den Hängen zerbrochene Töpferwaren und Schweinekiefer. Überdies verlaufen zu beiden Seiten des Felsens Wege, von welchen das vermeintliche „Plätzchen“ einsehbar war. Nur wenige Meter oberhalb führt der Traufweg entlang, der einst die Grenze zur bewirtschafteten Flur mit Wiesen und Äckern bildete. Hart unterhalb des Felsens führt der alte Viehtrieb vorbei, der Bissingen mit Rauber- und Engelhof und den Weiden auf der Alb verband. Lange unentdeckt geblieben wäre Mörike hier nicht. Bald wäre die Kunde ins Dorf gedrungen, dass der Pfarrer heimlich dem Müßiggang fröne, anstatt für die Sittlichkeit der ihm anvertrauten Seelen Sorge zu tragen. Mit ebenjener war es freilich nicht allzu weit her, schenkt man den damaligen Berichten staatlicher Stellen Glauben. Finanzassessor Rudolph Moser, Verfasser der Kirchheimer Oberamtsbeschreibung, blickt nur ein Jahrzehnt nach Mörikes Brief wenig günstig auf das 332 Seelen zählende Dorf. Ochsenwang, so schildert er, habe im Oberamt nicht nur „am meisten Gemeindeschulden“ sondern zeichne sich auch „... durch größere Sterblichkeit und ein ungünstiges Verhältniß der ehelichen Geburten zu den unehelichen aus. Die Einwohner sind von kräftigem, derbem Schlage, aber indolent und für Verbesserungen in der Landwirthschaft noch nicht empfänglich.“
Mehr Inspiration und Muse als am Rauberhof dürfte der Dichter an einem Ort gefunden haben, den Wulf Gatter für Mörikes wahren „Spitzigen Fels“ hält. Hier könnte der Pfarrvikar Zuflucht gefunden haben, wenn die Bürde des Amtes zu schwer auf ihm lastete und die Sehnsucht nach der Liebsten wieder einmal an ihm zehrte. Dieser Fels ist hoch über dem südöstlichen Ende des Bissinger Tales gelegen, am Rande eines kleinen Einschnitts des Albtraufs, aus welchem einhundert Meter tiefer und genauso weit westlich der durch Bissingen und Nabern fließende Gießnaubach entspringt. Aus dem nahen Ochsenwang kommend ist dieser Fels leicht zu finden, er liegt wenige Schritte unterhalb der zunächst nach Süden verlaufenden Rauberhof-Straße. Keine hundert Meter weiter taucht diese in einem leichten Bogen nach Südwesten in den Wald ein.
Auch dieser Fels würde das Prädikat „Spitziger Fels“ verdienen: Vom Albtrauf aus gesehen erhebt er sich wie eine Pyramide aus dem Steilhang. Er bildet einen engen, buckligen Grat, dessen Wände fast senkrecht in die Tiefe abfallen. Wer schwindelfrei ist, kann ihn bis zur Felsnase begehen. „Hier findet sich Mörikes Lehnstuhl“, glaubt Gatter, eine kleine Vertiefung mit erhöhten Flanken, die sich für eine einzelne Person vorzüglich zum Sitzen eignet. Vom Albrand her ist dieses lauschige Plätzchen nicht einsehbar. Die Beine kann der Wanderer hier „... ohne alle Gefahr“ ins bodenlose baumeln lassen, über eine Galerie hinweg, fast 30 Meter über dem Abgrund und über den Kronen der Bäume. Die Rückenlehne bildet der Fels. Gleich daneben ist heute eine Gedenktafel für einen verunglückten Kletterer angebracht. „Ja, hier muss es gewesen sein“, denkt man unweigerlich in dieser luftigen Höhe, durchzuckt vom selben Schauder, der auch Mörike einst durchfuhr.
Tief unten liegen die Weiden, Felder und Streuobstwiesen des Bissinger Tales. Den Ort selbst, dessen südlichste Gebäude zu Mörikes Zeiten die Mühlen am Bissinger See waren, sieht man von hier nicht. Die stark bewaldeten Westhänge des Breitensteins verdecken ihn. Aber schrieb der Dichter nicht, er blicke auf „die Häuslein des Dorfes nur leicht hingewürfelt“? „Es liegt natürlich nahe, dass er mit diesen Zeilen Bissingen meinte“, sagt Wulf Gatter. Doch explizit nennt Mörike die Ortschaft nicht. Von hier reicht der Blick zwischen Teck und Breitenstein bis weit ins Lauter- und Neckartal nach Dettingen, Kirchheim, Ötlingen, Köngen und Plochingen. Selbst die Weinberge über Esslingen sind von hier zu sehen. Könnte Mörike eine der weiter entfernt gelegenen Siedlungen gemeint haben oder gar die damals noch vereinzelt an den Hängen der Teck stehenden Weinberghäuschen?
Auch Gatters Fels liegt nicht südwestlich des Breitensteins, sondern mit 170 Grad eher südlich. „Immerhin liegen beide Felsen südwestlich des Pfarrhauses“, lacht er. Eduard Mörike wird gerne als passionierter Kartograf geschildert. Warum blieben seine Richtungsangaben dann aber so ungenau? Liegen im Südwesten des Breitensteins doch eigentlich die Steilhänge zwischen Sattelbogen und Unterer Diepoldsburg! Vergleicht man die von Mörike angefertigten Kartenskizzen, so fällt auf, dass er sich bei seinen Darstellungen der Ochsenwanger Berghalbinsel zunächst nicht auf eigene Beobachtungen stützte, sondern sein Wissen über den vermeintlichen Verlauf des Albtraufes aus Johann Gottlieb Bohnenbergers „Charte von Schwaben“ schöpfte. Auf dem im Jahr 1800 veröffentlichten Kartenblatt der Kirchheimer Region ist die Ochsenwanger Bergwelt völlig falsch dargestellt, das übernimmt Mörike zunächst. Der wohlmeinende Bohnenberger hat das imposante Felsplateau in Überbreite gezeichnet und den Namen „Breitenstein“ fälschlicherweise der Burg Hahnenkamm zugeordnet. Mörikes Mutter hatte dieses Kartenblatt wohl im März 1832 nach Ochsenwang mitgebracht, wie des Dichters Korrespondenz vermuten lässt – also nur wenige Wochen vor der Schilderung seines „Plätzchens“ am Spitzigen Fels. Zu diesem Zeitpunkt aber, erst kurz nach Aufnahme der Pfarrgeschäfte in Ochsenwang, dürfte Mörike über den genaueren Verlauf des Albtraufs noch einigermaßen im Ungewissen gewesen sein. Auch Schneegestöber und ein erneuter Wintereinbruch, von welchen er im März berichtet, dürften seiner Bewegungsfreiheit auf der rauen Alb zunächst Grenzen gesetzt haben.
Was Wulf Gatter an seiner eigenen Ortsbestimmung festhalten lässt, ist vielleicht auch der romantische Blick, mit welchem er auf den Dichter schaut. Die Sehnsucht nach der jungen Verlobten dürfte Mörike an seinem einsamen Dienstsitz verzehrt haben. Er nennt Ochsenwang „... ein Reihernest, abgeschnitten von aller kultivierten Welt“. Die Pfarrerstochter Luise Rau lebte damals in Grötzingen, am Rande des Schönbuchs. Von Gatters „Lehnstuhl“ aus bietet sich einer der wenigen unverstellten Blicke ins Land jenseits der Teck, bis weit ins Albvorland nach Westen. Durch den Einschnitt des Sattelbogens zwischen Diepoldsburg und Gelbem Fels sieht man bis zum Schönbuch und auf die Filderebene. Von hier konnte Mörike das Grötzinger Pfarrhaus in der Ferne erahnen und der Geliebten zumindest in Gedanken nahe sein.
Ganz an „seinen“ Felsen klammern, will sich Gatter dennoch nicht. Freimutig räumt er ein, dass es – abgesehen vom „Lehnstuhl“ in schwindelerregender Höhe, den er für einzigartig hält – in diesem Bereich des Albtraufs wohl mindestens ein halbes Dutzend weiterer Felsen gibt, auf welche Mörikes Beschreibung in der einen oder anderen Weise passt. Wulf Gatter gibt auch zu bedenken, dass Mörike Literat war und kein Naturwissenschaftler. „Vielleicht hat er in dichterischer Freiheit Eindrücke von mehreren Orten miteinander vermengt. Wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass dies ein romantischer Brief war und keine wissenschaftliche Abhandlung“.
Restlos klären lässt sich die genaue Lage von Mörikes „Spitzigem Fels“ wohl nie, so dass die Frage nach den „echten“ oder „falschen“ Felsen auch künftig immer wieder gestellt werden wird. Allein die Zeit spielt gegen sein Auffinden, ist die Schwäbische Alb doch ein Produkt rückschreitender Erosion, welcher auch ihre prägnanten Weißjurafelsen nicht zu trotzen vermögen. Spektakulär war dies am Wielandstein bei Oberlenningen zu erleben, wo im Januar 2015 ein großer Teil des Felszahns abbrach und mitsamt dem obersten Mauerkranz der mittelalterlichen Burgruine ins Tal donnerte. Und so wird dereinst wohl auch Mörikes „Spitziger Fels“ gen Tal rauschen, wenn er es denn nicht schon ist.
