Der junge Wendlinger auf der Anklagebank am Stuttgarter Landgericht ist erst 17 Jahre alt, doch die Liste seiner Vorstrafen ist lang. Schon mehrmals musste er sich wegen Körperverletzung verantworten. Dieses Mal soll er nicht nur zugeschlagen, sondern auch ein Messer gezückt haben. Töten wollte er seinen Kontrahenten nicht, da ist sich der Richter sicher. Unter anderem deshalb erspart er dem Jugendlichen vorerst das Gefängnis. Stattdessen gibt es eine Bewährungsstrafe.
Damit der junge Mann nicht doch irgendwann hinter Gittern landet, wäre ein Anti-Aggressionstraining dringend erforderlich, urteilt der Richter. Doch da der Angeklagte im Kreis Esslingen lebt, geht das nicht. Dafür stünden im Landkreis Esslingen keine finanziellen Mittel zur Verfügung, teilt der Richter mit.
Viele junge Tatverdächtige
Ein Fall, der sich vor wenigen Wochen am Stuttgarter Landgericht zugetragen hat und Fragen aufwirft. Fehlen im Kreis Esslingen präventive Maßnahmen, obwohl die Zahl der jugendlichen Tatverdächtigen im Jahr 2023 mit 974 im Kreis ein Fünfjahreshoch erreicht hat?
Im konkreten Fall des 17-jährigen Wendlingers lautete die Antwort des Landgericht Stuttgart: „Es wurde der Strafkammer bereits von der Jugendgerichtshilfe mitgeteilt, dass der Landkreis Esslingen aktuell kein Anti-Aggressionstraining für Jugendliche anbietet und eine Anbindung an Angebote anderer Landkreise oder der Landeshauptstadt aktuell an der ungeklärten Finanzierung scheitere“, so Timur Lutfullin, Richter am Landgericht und Mediensprecher in Strafsachen.
Ein weiterer Anbieter aus dem Landkreis habe der Kammer mitgeteilt, dass dort aufgrund von Personalmangel kein Anti-Aggressionstraining für Jugendliche angeboten werden kann. Das Gericht habe auch Rücksprache mit einem Träger aus Stuttgart gehalten, der ein passendes Anti-Aggressions-Training anbietet. Dort sehe man „schon seit Längerem einen Bedarf für ein ambulantes Training im Landkreis Esslingen“, so Lutfullin. In der Vergangenheit seien immer wieder Einzelfälle aus dem Landkreis Esslingen in das Programm des Stuttgarter Trägers aufgenommen worden. „Dies könne derzeit jedoch nicht mehr geschehen“, teilt der Sprecher mit.
Auf Anfrage bestätigt das Landratsamt, dass es aktuell kein Anti-Aggressions-Programm für Jugendliche gibt, man aber in Verhandlungen mit der Sozialberatung Stuttgart steht. Es soll ein Konzept zur Täterberatung im Bereich der sexualisierten Gewalt erarbeitet werden. Das Angebot soll sich aber auch an Täter richten, die wegen anderer Gewaltdelikte verurteilt wurden.
Angebote fehlen im Land
Die Sozialberatung Stuttgart ist unter anderem auf die Begleitung junger Straftäter spezialisiert und Teil des Netzwerks Straffälligenhilfe in Baden-Württemberg. Dort betont man die Wichtigkeit von Anti-Gewalt-Trainings.
„Die Angebote haben einen hohen präventiven Ansatz und wirken sich positiv auf den Opferschutz aus“, so Achim Brauneisen, Sprecher des Netzwerks Straffälligenhilfe in Baden-Württemberg. „Um Anti-Gewalt-Arbeit erfolgreich betreiben zu können, sind flächendeckende Angebote in ganz Baden-Württemberg mit einer auskömmlichen Finanzierung erforderlich.“ Dies sei derzeit nicht gegeben. „Leider ist es – wegen der begrenzten Haushaltsmittel des Landes – bisher noch nicht gelungen, Anti-Aggressionstrainings und Anti-Gewalt-Trainings so zu finanzieren, dass sie überall in Baden-Württemberg angeboten werden können.“
Von der Straße in die Werkstatt
Statt auf Anti-Aggressions-Programme setzt man im Landkreis Esslingen aktuell vor allem auf produktive Arbeitsmaßnahmen. Unter anderem als Reaktion auf die Bandenkriminalität im Großraum Stuttgart habe man jetzt gemeinsam mit freien Trägern das Programm „Re-Start“ ins Leben gerufen. In Esslingen, Nürtingen und Ostfildern werden junge Menschen im Alter von 14 bis 20 Jahren, die von Jugendgerichten zur Ableistung von Arbeitsauflagen verurteilt wurden, in drei Werkstätten intensiv begleitet.
„Sie verrichten sinnvolle Arbeit, sind immer in Kontakt mit sozialpädagogischen Fachkräften, verbringen dort viel Zeit und bekommen Anregungen dafür, wie ein straffreies Leben geführt werden kann“, heißt es in der Stellungnahme des Amts für Soziale Dienste und Psychologische Beratung im Landratsamt. 300.000 Euro habe der Kreis Esslingen im Haushalt 2025 bewilligt, damit dieses Programm umgesetzt werden kann.
Kritik kommt aus dem Landratsamt in Richtung Landesregierung: „Das Justizministerium sieht sich nicht in der Verantwortung, in diesem Feld zu investieren. Die Landkreise sehen aber hier absolut die Notwendigkeit, den aktuellen Entwicklungen im Bereich der Jugendkriminalität effektive und pädagogisch wertvolle Programme entgegenzusetzen.“
Der 17-jährige Wendlinger, für den kein Anti-Aggressions-Programm angeordnet werden konnte, soll einer der Ersten sein, der am Programm „Re-Start“ teilnehmen wird.

