Temporärer Leerstand muss kein Stillstand sein – der Stuttgarter Verein Adapter startet ab Ende Mai ein integratives Wohnprojekt im Neckarspinnerei-Quartier (NQ) in Wendlingen. Bis zu acht Personen sollen voraussichtlich bis Ende Oktober das Erdgeschoss des denkmalgeschützten ehemaligen Spinnereigebäudes bewohnen. „Wir wollen beweisen, dass solche leer stehenden Hallen schnell umnutzbar sind und trotzdem eine hohe Wohnzufriedenheit bieten können“, erklärt Paul Vogt von Adapter.
Einteilung nach Wunsch
Gewohnt wird im von Adapter entwickelten Raum-in-Raum-System „Endo“. Jedem Teilnehmer steht ein mit Schiebetüren abtrennbares persönliches Modul aus Holz mit zwölf Quadratmetern als Rückzugsort zu Verfügung. Die einzelnen Module sind per Infrarot-Panel beheizbar und haben einen integrierten Schallschutz. Hinzu kommen im gemeinschaftlichen Bereich vier Badmodule und zwei Küchen, wie Nicole Ottmann von Adapter erklärt. Wie die einzelnen Module auf den insgesamt 1200 Quadratmetern im EG des ehemaligen Spinnereisaals platziert werden, sollen die künftigen Bewohner selbst entscheiden. „Wir wollen schon im Vorfeld in Workshops einen gemeinsamen Grundriss entwerfen“, sagt Nicole Ottmann.
Sie hat Architektur und Stadtplanung studiert und ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Städtebauinstitut der Universität Stuttgart tätig. Die Gemeinschaftsflächen dazwischen können frei nach individuellen Bedürfnissen genutzt werden, auch Arbeitsplätze sind laut Vogt denkbar. Die soziale Komponente sei dabei wichtig: „Das heißt natürlich auch, dass sich die Teilnehmer schon im Vorfeld damit auseinandersetzen müssen, wie eng sie beieinander wohnen wollen und wie viel Platz sie allein und als Gemeinschaft benötigen“, so der Architekt.
Einige Interessenten für das wissenschaftlich begleitete Pionierwohnen im NQ gibt es bereits, weitere werden gesucht. Die Gemengelage ist ganz unterschiedlich: „Es ist eine bunt gemischte Gruppe“, sagt Ottmann. Was sie besonders freut: Die Altersspanne der Wohnpioniere reicht aktuell von Anfang 20 bis Mitte 60.
Bislang seien es nur Einzelpersonen, aber auch Paare oder Familien mit Kindern seien herzlich willkommen, betont sie. Vom Einzugsgebiet her kommen die Probanden aus Stuttgart und aus der Region, auch eine Person direkt aus Wendlingen hat Interesse an dem Projekt signalisiert. Dass vielen älteren Menschen das Thema Wohnen unter den Fingernägeln brennt und sie bereit sind, ihre Komfortzone aufzugeben, sorgt bei Adapter indes für wenig Verwunderung. „Die meisten Senioren wollen aus dem Alleinsein raus und wieder in einer Gemeinschaft leben“, sagt Ottmann. Gerade wenn etwa die Kinder aus dem Haus sind oder der Partner verstorben ist, falle vielen in ihren großen Häusern oder Wohnungen schnell die Decke auf den Kopf. Für den 2019 gegründeten Verein ist das Wendlinger Wohnprojekt eine lang ersehnte Premiere. „Wir sind da schon eine ganze Zeit lang dran“, bestätigt Vogt. Adapter habe die Idee schon oft vorgestellt, stieß durchaus auf Interesse, scheiterte dann aber an den technischen und rechtlichen Voraussetzungen.
Zudem braucht es einen Eigentümer, der bereit ist, sich auf so ein Experiment einzulassen. „Da sind viele dann doch eher vorsichtig, wenn es an die konkrete Umsetzung geht“, so Vogt weiter. Jetzt habe man aber alle Hürden genommen und mit der Firma Heinrich Otto und Söhne (HOS), welche die Spinnerei früher betrieben hat und der das NQ gehört, einen stets offenen Partner gewonnen. Es steckt viel Arbeit hinter dem Projekt, die die ehrenamtlich tätigen Adapterleute neben ihren normalen Jobs zu erledigen hatten. So war etwa ein Brandschutzkonzept zu erstellen und dem Kreisbrandmeister vorzulegen sowie eine enge Abstimmung mit dem Denkmalamt nötig. Aber auch von offizieller Seite herrschte von Anfang an eine große Offenheit und Bereitschaft. „Vom Denkmalamt kam die Aussage, dass es gut sei, wenn solche Räume wie im NQ wiederbelebt werden“, freut sich Vogt. Auch die Finanzierung trieb den Verein einige Zeit um – letztlich kommen die Mittel jeweils zur Hälfte von der Stuttgarter Vectorstiftung und aus dem Topf, den die Region Stuttgart für IBA’ 27-Projekte zur Verfügung stellt.
Geht es nach Adapter, sollen die Erkenntnisse, die aus dem Wendlinger Wohnexperiment gezogen werden, an anderen Orten fortgeführt werden. „Es wird künftig noch mehr Leerstände geben“, prognostiziert Ottmann. Die Innenstädte seien im Umbruch, hinzu komme eine große Wohnungsnot, ergänzt Vogt. Denkbar ist auch, dass die flexiblen Wohnmodule zur Flüchtlingsunterbringung genutzt werden könnten.
Temporäre Leerstände sinnvoll nutzen
Verein Der Verein Adapter aktiviert temporär leer stehende Raumressourcen, um neue Formen des Wohnens experimentell zu erforschen. Dabei soll nicht nur Wohnraum geschaffen, sondern auch die sozialen Dimensionen des Wohnens untersucht und neue Wege dafür aufgezeigt werden.
Projekt Von Ende Mai bis Oktober sollen bis zu acht Personen in einem denkmalgeschützten Industriegebäude in der Wendlinger Neckarspinnerei wohnen. Der Versuch wird wissenschaftlich begleitet. Interessierte können sich ganz kurzfristig unter kontakt@adapter-stuttgart.de anmelden, das erste Treffen findet am 18. Februar statt.
Quartier Die Produktion im Wendlinger Neckarspinnerei-Quartier, das ein offizielles Projekt der Internationalen Bauausstellung 2027 Stadt Region Stuttgart (IBA’ 27) ist, wurde im Jahr 2020 eingestellt. Seitdem wird der denkmalgeschützte Altbestand nach und nach saniert und das gesamte Quartier behutsam weiterentwickelt. Einige der alten Industriebauten auf dem insgesamt 4,7 Hektar großen Areal warten dabei immer noch auf neue Nutzer. Bis dahin stehen die Gebäude leer. kd