Flüchtlingshilfe
Zehn Jahre „Projekt Nordirak“; Zuflucht gefunden, Zukunft ungewiss

Der Kreis Esslingen feiert zehn Jahre Hilfe für jesidische Frauen und Kinder. Damals hat der Landkreis mehr als 100 Menschen aufgenommen. Viele sind heute integriert, manche innerlich zerrissen. 

Oben: Miranda und Rima Ozo und ihrer Mutter Hilwa Gzaa wissen nicht, wie es in Zukunft für die Familie weitergehen soll. Foto Thomas Zapp

Am 23. Juni 2015 landete Hilwa Gzaa mit ihrer Tochter Miranda und den Söhnen Mahmood und Randa auf dem Flughafen Stuttgart. Die dreifache Mutter aus dem Nord-Irak gehörte zur ersten Gruppe von jesidischen Frauen und Kindern, die nach Plochingen in das ehemalige Krankenhaus kam und dort eine Unterkunft und Hilfe bekamen – auch Menschen mit Behinderungen waren dabei.

Der zehnte Jahrestag ist für viele ein Grund zum Feiern, Landrat Marcel Musolf ist gekommen und spricht ein Grußwort, sein Vorgänger Heinz Eininger, der damals in der Verantwortung stand, zahlreiche Ehrenamtliche, Mitarbeiter des Staatsministeriums und des Landratsamtes sind ebenfalls dabei. Martin Abel vom Sozialen Dienst Kirchheim, damals Mitorganisator des „Projekts Nordirak“, spielt ein Video-Grußwort von Ministerpräsident Winfried Kretschmann ab. Natürlich sind auch viele der jesidischen Familien selbst vor Ort, die heute teilweise in anderen deutschen Städten leben. Jeder bringt etwas zu essen mit, das Buffet ist reichlich gedeckt. Für die meisten trifft offensichtlich das Motto des Wiedersehens zu: „Zuflucht gesucht – Zuhause gefunden.“

 

Die kleine Rima fragt nach ihrem Vater. Was soll ich tun?

Hilwa Gzaa lebt seit zehn Jahren von ihrem Mann getrennt. Eine Familienzusammenführung ist nicht möglich, weil sie nicht die nötigen Voraussetzungen erfüllt. 

Doch es gibt nicht nur glückliche Gesichter an diesem Nachmittag. Die 18-jährige Miranda Oso, die wie ihre Geschwister den Nachnamen ihres Vaters trägt, macht gerade an der Realschule ihre mittlere Reife und fühlt sich in Deutschland heimisch. „Ich würde gerne eine Ausbildung zur Apothekerin machen“, sagt sie. Wenn es da nicht eine große Unbekannte gäbe: Ihr Vater ist immer noch im Irak und darf nicht kommen, weil er kein Visum erhält. Auch die Voraussetzungen für einen Familiennachzug erfüllt er nicht.

Ein paar Mal konnte ihre Mutter den Vater im Irak besuchen, damals glaubte man an eine gemeinsame Zukunft in Deutschland. Das jüngste der vier Kinder, das heute sieben Jahre alt ist, wurde in Deutschland geboren, lebt mit Mutter und Geschwistern in Frickenhausen. „Die kleine Rima fragt nach ihrem Vater. Was soll ich tun?“, fragt Hilwa Gzaa. Es gebe keine Familie, der Vater ist alleine im Nordirak. Auch er ist dort auf sich gestellt, alle männlichen Verwandten von ihm sind tot.

Eine Heimat im Sinne von Geburtsort hat die Familie auch nicht mehr. Ihr Dorf Kodscho war ausschließlich von Jesiden bewohnt. Im Jahr 2014 verübte der Islamische Staat einen Völkermord an der dortigen Bevölkerung, die meisten Männer wurden getötet und verschleppte Kinder und Frauen aus dem Dorf. Sie lebten danach in Lagern, wie Miranda und ihre Familie. Bis 2016 konnten nach Angaben des UN-Menschenrechtsrats 3.500 Mädchen und Frauen befreit oder freigekauft werden. Ihr Leben konnten sie retten, das Zuhause gibt es nicht mehr. „Dort ist alles kaputt“, sagt Miranda.

Im Rahmen eines Sonderkontingents nahm das Land Baden-Württemberg im Jahr 2015 rund 1000 Frauen und Kinder auf. „Die Stimmung war damals positiv“, erinnert sich Sabine Pereira, die für das Landratsamt eine der Helferinnen der ersten Stunde in Plochingen war. Es sei kein Problem gewesen, Freiwillige zu finden. Doch die Belastung für die Landkreise war schon damals hoch, bevor die jesidischen Frauen und Kinder kamen. „Wir hatten damals bis zu 700 Geflüchtete im Monat“, sagt Landrat a.D. Heinz Eininger, der sich noch gut an die Herausforderungen erinnern kann.

Sabine Pereira (links) und Andrea Werthmann gehörten zu den Organisatorinnen der ersten Stunde im „Projekt Nordirak“. Fotos: Thomas Zapp

Auch die Neuankömmlinge waren erstmal überfordert. „Wir dachten, dass wir gemeinsam kochen, doch die meisten wollten für sich sein“, erinnert sich Andrea Werthmann, die ebenfalls für den Landkreis vor Ort war und bis zum Schluss des Projekts im Jahr 2019 in der Einrichtung in Plochingen gearbeitet hat. Im Nachhinein kann es die Bissingerin verstehen, dass sich die Frauen und Kinder zurückgezogen haben: „Sie hatten im Lager keine Intimität.“ Die Einrichtung in Plochingen funktionierte aber immer besser. In Eigenregie bauten sie sogar eine Kinderbetreuung auf, damit Mütter Zeit für Sprachkurse hatten. Es wurden Traumatherapeuten hinzugezogen, eine Kunsttherapie etabliert. 

Das Thema Familienzusammenführung spielte anfangs keine Rolle. „Wir dachten damals, alle Männer seien tot“, erinnert sich Sabine Pereira, die heute in der Rückkehrberatung arbeitet. Daher weiß sie, dass es auch die Fälle einiger Jesidinnen gegeben hat, die zurückgegangen sind. Andere haben es geschafft, ihre Männer nachzuholen. „Dafür gibt es Regeln, die sich immer wieder ändern“, sagt Andrea Werthmann. So müsse ein Mann ein eigenes Nachkommen und Deutschkenntnisse auf Niveau A2 nachweisen. Auch die Familie in Deutschland müsse ein eigenes Einkommen haben, so sehe es das Gesetz vor.

All diese Voraussetzungen hat eine Familie erfüllt, die an diesem Nachmittag auch in Plochingen ist, bei der Familie Gzaa/Oso ist dagegen keine erfüllt. „Es gibt keinen Plan“, sagt Miranda. Wenn alle gehen, müsse sie mitkommen, in Deutschland habe sie sonst keine Möglichkeit zu wohnen. Aber ihre Geschwister können nur deutsch und kennen sich auch nur hier aus. Die Frage, wo ihre zukünftige Heimat ist, kann Miranda dennoch nicht beantworten.