Am Montag ist Sumy nur knapp einer Katastrophe entgangen. In der örtlichen Chemiefabrik ist nach dem Beschuss durch russische Truppen ein Ammoniaktank leckgeschlagen. Das hochgiftige Gas hat für Stunden die Stadt bedroht. Am Dienstag gab der Zivilschutz Entwarnung. Spezialisten sei es gelungen, das Leck zu schließen, heißt es.
Es sind Nachrichten wie diese, die Hanna Koniaieva fassungslos machen. Die Stadt mit knapp 300 000 Einwohnern im Norden der Ukraine liegt nahe der russischen Grenze. 350 Kilometer sind es von hier nach Kiew, doppelt so weit Richtung Norden nach Moskau. Sumy ist Hannas Heimatstadt. Dort hat ihr sechsjähriger Sohn bis vor Kurzem im Verein Fußball gespielt, hatte ihre siebenjährige Tochter Spaß beim Tanzunterricht. Sie hat einen Universitätsabschluss, möchte eines Tages als Tourismusmanagerin arbeiten. Es ist ein Leben in bescheidenem Wohlstand, in dem sie sich um die Kinder kümmert, ihr Mann Valeri als Taxifahrer für ein Durchschnittseinkommen sorgt. Jetzt fallen in der seit Wochen umkämpften Provinzhauptstadt Bomben auf Wohnhäuser. In einem davon harren ihre Eltern aus.
„Viele haben es nicht geglaubt“, sagt die 29-jährige Mutter. „Und viele tun es bis heute nicht.“ Sie und ihr Mann gehören nicht dazu. Als am 24. Februar die russische Invasion beginnt, sind sie längst in Sicherheit. Es war eine Entscheidung ohne Bedenkzeit, sagt sie. „Wir wussten, wir müssen gehen – jetzt oder nie.“ Innerhalb weniger Stunden packen sie das Nötigste
Die Flucht vor Putins Krieg führt sie über Berlin nach Ohmden. Jennifer und Sascha Grampp, die Wirtsleute im Landgasthof am Königsweg haben sie bei sich aufgenommen. Drei der sieben Hotelzimmer im Haus sind nun Zufluchtsstätte für Menschen aus einem Land, in dem Krieg herrscht. Gefunden haben sie sich über das weltweite Portal „Host4Ukraine“. Der Gasthof, der viele Geschäftsreisende beherbergt, ist wegen Corona noch immer schwach gebucht. „Wir waren uns einig, dass wir in dieser Situation irgendwie helfen wollen“, sagt Jennifer Grampp.
Für Hanna und ihre Familie soll Ohmden nur Durchgangsstation bleiben. Doch wie plant man, was nicht zu planen ist? Beider Eltern, die alle Ende Fünfzig sind, wollen nicht weg von daheim. Sie kümmern sich um die Haustiere, um das kleine Apartment der Kinder, das bis auf Glasschäden bisher unversehrt geblieben ist. Der Kontakt ist schwierig. Telefon und Internet sind häufig unterbrochen. Valeri ist 32 Jahre alt und könnte sich vorstellen zurückzukehren, um für sein Land zu kämpfen. Doch Hanna will eine Zukunft für ihre Kinder. Sie sagt: „Entweder gehen wir alle zurück oder keiner.“
Es hätte ein Kurztrip sein sollen. Eine Art Urlaubsreise. Für die beiden Kinder ist es das noch immer. Über den Krieg wird geredet, versucht, das Unerklärliche zu erklären. Doch Nachrichten aus der Heimat, die Bilder von Tod und Zerstörung tauchen erst auf, wenn die Kinder schlafen. „Es reicht, wenn wir nachts keine Ruhe finden“, sagt Hanna Koniaieva.
Die Lage in Sumy ändert sich beinahe stündlich. Mal fallen Bomben, mal ist es ruhig. Die Versorgungslage ist schlecht, es gilt eine Ausgangssperre. Auf den Straßen der Stadt findet sich fast nur Militär. Dass der Westen zuschaut aus Furcht vor einer Eskalation, kann Hanna verstehen. „Niemand will einen Weltkrieg“, sagt sie. „Aber kein Mensch sollte wegen eines Krieges sterben müssen.“ Und jeder sollte wissen, was wirklich geschieht. Für Desinteresse und Ahnungslosigkeit in der russischen Bevölkerung zeigt die 29-Jährige wenig Verständnis. „Falschinformationen gibt es nicht erst jetzt. Die Menschen in Russland erleben das seit vielen Jahren“, sagt sie. „Wer die Wahrheit kennen will, der kann sie erfahren.“
Sobald es die Lage zulässt und ihre Kinder sicher sind, wollen sie zurück. Ein vager Wunsch, denn keiner weiß, wie lange dieser Krieg dauert. Eine Heimkehr in ein von Russen besetztes Land wäre für beide keine Option. In welchem sie sich vorstellen könnten, länger zu bleiben, welche Sprache die Kinder erlernen sollen, das alles will gut überlegt sein. Sie werden weiterziehen. Einen Teil ihres Ersparten haben sie bei sich. Noch funktioniert der Zugriff aufs Bankkonto in der Heimat. „Irgendwo werden wir immer Arbeit finden“, meint Hanna Koniaieva. Geld ist im Moment ihre geringste Sorge. Sie sagt: „Heimat kann man nicht kaufen.“
Zerstörungen durch deutsche Besatzer
Sumy ist die Provinzhauptstadt der Oblast Sumy im Nordosten der Ukraine. Die Stadt hat inzwischen rund 300 000 Einwohner und liegt an einem Nebenfluss des Dnepr. Die Siedlung, die 1652 gegründet wurde, ist heute ein wirtschaftliches Zentrum für Apparatebau und die Chemie-Industrie. Hier werden Schuhe produziert, Elektronen-Mikroskope für die Wissenschaft entwickelt und Farben und Lacke hergestellt.
Im Zweiten Weltkrieg wurde die Stadt durch die deutsche Wehrmacht weitgehend zerstört. Nach Kriegsende befand sich hier eines der zentralen sowjetischen Lager für deutsche Kriegsgefangene. Nach Beginn des Überfalls durch Russland am 24. Februar dieses Jahres war die Region um Sumy eine der ersten, die von ukrainischen und russischen Truppen heftig umkämpft waren. bk