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Zu Fuß von Bissingen nach Santiago: Wo ein Wille, da ein Camino

Abenteuer Tatjana und Hansjörg Richter aus Bissingen sind auf dem Pilgerweg 2464 Kilometer nach Santiago de Compostela gelaufen: Gestartet sind sie vor ihrer Haustür. Von Thomas Zapp

Es gab einen Zeitpunkt auf Ihrer Reise, da musste Tatjana Richter einmal die Reißleine ziehen. Nachdem sie und ihr Mann in Spanien in eine Hitzewelle geraten waren, mit morgendlichen Temperaturen um 30 Grad, spielte ihr Kreislauf nicht mehr mit. „Die Ärztin im Gesundheitszentrum fragte, was wir in den letzten Tagen so gemacht hatten und wir sagten ihr, dass wir 1800 Kilometer gelaufen waren“, erinnert sie sich Richter. „Da war ihr alles klar.“ Aber Aufgeben kam nicht in Frage: Nach zweieinhalb Tagen Pause waren Tatjana und Hansjörg Richter wieder auf dem Weg nach Santiago de Compostela, oder wie die Spanier ihn nennen: El Camino de Santiago.

Zu diesem Zeitpunkt lagen noch 846 Kilometer Fußmarsch vor ihnen, aber bei so einer Strecke, die in ihrem Heimatort Bissingen begann und im Nordwesten Spaniens enden sollte, relativeren sich die Entfernungen. „Ein Kollege von mir ist den Jakobsweg zwei Monate vor uns gelaufen, der hatte bei 500 Kilometern Reststrecke von ,Endspurt’ geschrieben“, erzählt Hansjörg Richter. Damals hat er ihn nicht verstanden, heute weiß er, wovon er sprach.

 

Der Camino löst keine Probleme – aber er hilft, keine neuen zu bekommen.
Hansjörg Richter
 

Rückblickend von ihrer Terrasse mit Blick auf den Breitenstein, können es die beiden selbst kaum glauben, was sie da geschafft haben: 104 Etappen und 2464 Kilometer, das waren im Schnitt 24 Kilometer pro Tag – zu Fuß! „Was für ein Weg“, sagt Hansjörg Richter.

Der Bissinger hat durch den Gewaltmarsch zehn Kilogramm Körpergewicht verloren. Bei seiner Frau waren es weniger: „In Spanien nimmst Du Dein in Frankreich verlorenes Gewicht wieder zu“, sagt sie lachend angesichts der kalorienreichen spanischen Küche. Ihren Rucksack haben sie dagegen kontinuierlich „entmistet“ und leichter gemacht, vier Mal haben sie während der Reise Sachen nach Hause geschickt. „Jedes Gramm zählt“, sagt Hansjörg Richter. Er hatte 12,5 Kilogramm Startgewicht ohne Essen und Trinken, sie 7,5 Kilogramm. Doch sie haben gelernt, dass das Gewicht gar nicht das entscheidende ist: „Viel wichtiger ist, dass er richtig sitzt“, sagt Tatjana Richter. 

 

Psychisch und physisch eine Challenge

Körperlich war es für beide ohnehin eine Herausforderung: Hansjörg hat häufig Rücken- und Knieschmerzen, Tatjana leidet unter Arthrose im Fuß hat und war immer bereit, abzubrechen, wenn es nicht mehr weitergehen sollte. So ging es 800 Kilometer bis zum ersten Schuhwechsel mit einem identischen Modell, den ein kleiner Umweg ermöglichte. Danach lief es besser: „Ich hatte das Gefühl, es hat sich eingelaufen, mir geht es jetzt besser als vorher“, sagt sie. Der Körper ist in der Lage, sich anzupassen, das hat sie gelernt.

Doch auch psychisch hatte die Mammutwanderung einige Aufgaben zu bieten: Frankreich war dadurch der mental intensivste Teil zum Gehen, denn Ablenkdung gab es vor allem im nördlichen Teil wenig, nur viel Landschaft. „Wir haben nach 750 Kilometern den ersten Pilger getroffen“, erzählt Hansjörg Richter. Auf manchen 25-Kilometer-Etappen hatten sie weder Menschen noch bewohnte Gebäude gesehen, dafür menschenleere Dörfer. „Da zerfallen Kirchen und Häuser“, sagt er. „In manchen Gärten stehen Autowracks, Frankreich ist teilweise bettelarm“,  erinnert sich Tatjana Richter an eine Gegend in Burgund. 

Die Unterkunft für die Nacht war die größte Herausforderung im französischen Teil, Pensionen waren häufig Mangelware, daher nahm die Suche nach privaten Übernachtungsmöglichkeiten bis zu zwei Stunden am Tag in Anspruch. Mit dem legendären französischen Pilger-Führer Guide Miam Miam Dodo Via Podiensis hatten sie aber meistens eine zuverlässige Quelle. Einmal gab aber auch der Führer keine Auskunft mehr, und die beiden improvisierten. „Dann hat eine Frau ihren Bekannten angerufen und wir konnten dort unterkommen. Ohne Privatpersonen hat man keine Chance“, sagt Tatjana Richter. Wenn dann wirklich gar nichts mehr ging, hatten sie immer noch ihr Zelt.

Nach Überqueren der französisch-spanischen Grenze änderte sich das Panorama schlagartig: Schulklassen, Clubs waren unterwegs, vor allem die letzten 100 Kilometer von Sarria nach Santiago sind von Juli bis August eine Art Volksweg und „rappelvoll“. Am Wegesrand konnte zwischen beliebten Start- und Zielpunkten von Tagestouren ziemlich  genau auf der Mitte auch schonmal ein Foodtruck stehen – es war verglichen mit Frankreich eine andere Welt. 

Von Außenwirkung überrascht

Was Hansjörg und Tajana Richter von der Reise mitnehmen, hätten sie anfangs nicht gedacht: Als Paar funktionieren und harmonieren sie, das ist auch vielen Pilgern aufgefallen. „Die Außenwirkung hat uns selbst überrascht“, sagt sie. Normalerweise machen sie im Alltag in Deutschland viel für sich machen, sind früher sogar getrennt in Urlaub gefahren. Jetzt waren sie drei Monate jeden Tag zusammen und haben sehr gut harmoniert.

Dabei hatte gerade die 56-Jährige als Betreiberin einer Pferdepension im Vorfeld der Reise viel Stress: Zwei Jahre Planung gingen ins Land, bis die Versorgung der Tiere und alle Eventualitäten abgesichert waren – vom Futter bis zur Ersatzbatterie. Der 60-jährige Hansjörg hatte gerade seinen Vorruhestand angetreten, kam also direkt aus der durchstrukturierten Arbeitswelt eines Autobauers.

Gelangweilt haben sich die beiden dennoch nie, auch wenn sie manchmal drei Stunden schweigend nebeneinander hergelaufen sind. „Du reduzierst Dich auf das Wesentliche", sagt Tatjana Richter, die jeden Abend online ihr Tagebuch geführt hat, das mit der Zeit unter ihren deutschen Freunden viele Fans gewonnen hat .

Durch die körperlichen Anstrengungen und Entbehrungen erlebten sie manchen Moment intensiver: „Man freut sich so tief, wenn jemand einem nach 15 Kilometer in einem Dorf in Frankreich ein Glas kaltes Wasser reicht“, erinnert sich Tatjana Richter.  Oder der Pfarrer, der aus der Kapelle auf einem Berg im Schwarzwald kommt und ihnen einen Eistee anbietet, oder ein durchs Autofenster gerufenes „bonne chance" (viel Glück) – diese Glücksmomente haben sich den beiden tief ins Gedächtnis gegraben.

Ihr Fazit: Wo ein Wille, da ein Weg. „Viele spielen ja mit dem Gedanken und sagen dann ‚das kann ich nicht’, das lasse ich nicht mehr gelten, man kann sich organisieren und sechs Wochen kriegt man irgendwie hin", sagt sie. 

Gelohnt haben sich die Mühen für beide, auch wenn es schwer fällt, das Erlebte in Worte zu fassen. In einem solle man die Erwartung nicht zu hoch schrauben, sagt Hansjörg Richter: „Der Camino löst keine Probleme, die hat man auch hinterher. Aber er kann helfen, keine neuen zu bekommen." Auch helfe der „Camino", den Kopf zu leeren und Dinge anders einzuordnen. 

Sie haben Menschen aus 35 Ländern getroffen, mit einigen sind Freundschaften entstanden. „Das ist eine tolle Erfahrung“, sagt Hansjörg. Manche trafen sich in Santiago nach 1200 Kilometern wieder, wie Ingo aus Erfurt. Was sie die Begegnungen und „der Weg gelehrt hat“, nehmen sie mit: Gib jedem eine Chance, gut zu sein.

Nun hat der Alltag hat die beiden mehr – oder weniger – wieder. Hansjörg Richter hat rund 16 000 Fotos und 80 Din A4-Seiten Tagebuch aufzuarbeiten. Und was schon fest geplant ist: die Gastgeber ihrer ersten Station in Großbettlingen kommen zum Kaffee nach Bissingen. Denn die haben ihnen das erste gute Gefühl gegeben und die Basis für einen erfolgreichen Camino gelegt.