Das abrupte Ende der Kindheit, keine Chance auf Bildung und Selbstbestimmung, ein Leben in Abhängigkeit und nicht selten mit körperlicher Gewalt – nach einer Umfrage der Hilfsorganisation Terre des femmes an deutschen Schulen waren 2022 knapp 1900 Mädchen von Zwangsheirat betroffen oder bedroht. Ein Thema, das oft erst dann sichtbar wird, wenn nach den Schulferien im Sommer ein Stuhl im Klassenzimmer leer bleibt, weil Kinder nicht mehr aus der Heimat zurückkehren oder junge Frauen unter Zwang ihre Schulzeit abrupt beenden. Um das zu verhindern, heißt es für Schulen und Jugendämter, wachsam zu sein.
Familien aus Kulturkreisen mit streng patriarchalen Strukturen stehen dabei besonders im Fokus. „Doch solche Fälle gibt es durchaus auch unter deutschen Christen“, sagt eine Sprecherin von Yasemin in Stuttgart, die aus Sicherheitsgründen anonym bleiben will. Die landesweit tätige Fachstelle für Opfer von „Straftaten im Namen der Ehre“, wie es juristisch korrekt heißt, berät junge Frauen, denen familiäre Gewalt, Genitalverstümmelung oder Zwangsverheiratung droht. Doch nicht nur: „Junge Männer kann es genauso treffen, wenngleich diese Fälle deutlich seltener und die Auswirkungen weit harmloser sind“, sagt die Beraterin.
Die Gefahr richtig einzuschätzen, ist eine schwierige Aufgabe.
Kerstin Deuschle, Kinderschutz-Koordinatorin im Esslinger Landratsamt
Im Esslinger Landratsamt fand auf Initiative von Yasemin vor wenigen Wochen eine Präventionsveranstaltung mit fast 90 Personen aus der kommunalen Verwaltung, der Schulsozialarbeit und der Kinder- und Jugendhilfe statt. Das Ziel: das Thema stärker ins Bewusstsein zu rücken. Beispiele von Zwangsverheiratung sind zwar selten, aber es gibt sie. Etwa zwei Fälle pro Jahr auf den Landkreis bezogen, rechnet Kerstin Deuschle, Koordinatorin im Bereich Kinderschutz im Landratsamt, vor.
Das Problem allerdings ist weit größer, denn eine anstehende Zwangsheirat ist meist nur die Spitze des Eisbergs. Dem geht in aller Regel jahrelange Unterdrückung und Gewalt voraus, die Jugendliche in ihrer Persönlichkeitsentwicklung massiv gefährden. Das Schicksal der 23-jährigen Hatun Sürücü, die im Februar 2005 in Berlin von einem ihrer Brüder mit drei Kopfschüssen getötet wurde, weil sie sich einem streng traditionellen Leben verweigerte, machte über Deutschland hinaus Schlagzeilen.
Wachsam sein, auf Signale achten, Vertrauen gewinnen – für Personal an Schulen ist das der einzige Weg. „Wir sind am nächsten dran und greifen sofort ein, wenn uns dergleichen zu Ohren kommt oder jemand das Gespräch sucht“, sagt der Geschäftsführende Schulleiter der Kirchheimer Schulen, Thorsten Bröckel, Rektor an der Alleenschule. Ein aktuelles Beispiel, sagt Bröckel, sei ihm zum Glück zwar nicht bekannt, was nicht heißt, dass es Fälle in der Vergangenheit nicht gegeben hätte.
Die Gefahrenlage richtig einzuschätzen, zu entscheiden, wann es an der Zeit ist, Jugendliche aus Familien zu holen, „das ist eine sehr schwierige Aufgabe“, sagt Kerstin Deuschle. Die meisten Opfer wollen keinen Bruch mit ihren Familien. Was sie wollen, ist ein selbstbestimmtes Leben führen. Stehen Sommerferien vor der Tür und droht eine Verschleppung ins Ausland, heißt es für Behörden, schnell zu handeln. Dann sind Hilfen wie die von Yasemin gefragt. So wie man dort nicht mit Klarnamen arbeitet, ist der Schritt in die Anonymität, die Unterbringung an einem streng geheimen Ort, oft der einzige Ausweg – bis hin zu einer völlig neuen Identität. Yasemin vermittelt solche Schutzräume. Doch davon gibt es viel zu wenig. Im Kreis Esslingen bleiben in der Regel nur die drei Frauenhäuser in Kirchheim, Esslingen und Filderstadt. „Für Minderjährige kann das jedoch allenfalls eine Notlösung sein“, sagt Kerstin Deuschle.
Landesweit fehlen Schutzräume
Laut Yasemin fehlt es landesweit vor allem an regelfinanzierten Plätzen, die Sicherheit bieten. Hinzu kommt: Für junge Migrantinnen stellt häufig ihr Aufenthaltsstatus ein Risiko dar. „Ein echtes Problem“, sagt die Beraterin. Weil im laufenden Asylverfahren eine sogenannte Residenzpflicht gilt, ist es nicht einfach möglich, den Wohnort zu wechseln. Fachstellen fordern daher seit Langem unbürokratische Ausnahmen von dieser Regel. Zwar gibt es im Aufenthaltsgesetz seit fünf Jahren den Paragrafen 12a, der die Wohnsitzbindung aufhebt, wenn es um Gewaltschutz geht. Dies gilt allerdings nur befristet, muss gut begründet sein und dauert entsprechend lang. Manchmal zu lang.
Freie Wahl des Ehepartners ist ein Menschenrecht
Eine Zwangsheirat ist keine Privatangelegenheit innerhalb der Familie, sondern eine schwerwiegende Verletzung von Menschenrechten. Eine Ehe darf nur im freien und vollen Einverständnis der künftigen Ehegatten geschlossen werden, heißt es in Artikel 16, Absatz 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, die von den Vereinten Nationen verfasst wurde.
In Deutschland stellt Zwangsverheiratung seit 2011 unter Strafe. Sowohl die Nötigung, als auch die Verschleppung zu diesem Zweck kann zu einer Gefängnisstrafe von bis zu fünf Jahren führen. Handelt es sich dabei um Minderjährige geht es zudem um Kindeswohlgefährdung, die sowohl im deutschen Grundgesetz wie auch in der UN-Kinderrechtskonvention verankert ist.
Kinderehen sind mit Ausnahme weniger Staaten zwar verboten, die Dunkelziffer ist in vielen Ländern Afrikas, in Südostasien oder dem Mittleren Osten allerdings hoch. In der Türkei gilt für die Heirat inzwischen ein gesetzliches Mindestalter von 18 Jahren. Viele Ehen Minderjähriger werden jedoch nicht staatlich, sondern durch Imame besiegelt und damit geduldet. bk