Auswanderergeschichten zeichnen ein Amerikabild zwischen Bangen und Hoffen
Neue Heimat in der Ferne

Kirchheim. Während die ganze Welt noch gen London blickte, halb Kirchheim sich der Weinseligkeit hingab und die andere Hälfte im Sommernachtskino in die Vergangenheit reiste, genoss eine verschworene Gemeinschaft am Freitagabend in der Kirchheimer Stadtbücherei eine virtuos gestaltete Reise von „Old Europe“ in die verheißungsvolle neue Welt der Vereinigten Staaten von Amerika.

Unter dem Titel „Ich setze meinen Fuß auf den neuen Weltteil“ hatten Luise Wunderlich und Harald Schneider zu einer unterschiedlichste Sinne und noch mehr Gefühle beflügelnden Exkursion geladen, die ohne GPS und Google Earth, dafür aber mit viel Kreativität und Fantasie inszeniert, direkt ins Ziel führte und dabei souverän mit Emotionen spielte.

Viel Hilfestellungen für das interessierte Publikum gab es dabei freilich nicht und genau das war vielleicht das Erfolgsrezept. Durch dauernde Musik- und Szenenwechsel voll gefordert, konzentrierten sich die Besucher so intensiv auf den Inhalt, dass bis zur Pause auf jede Beifallskundgebung verzichtet wurde, um nichts zu verpassen.

Allein mit der Ausdruckskraft ihrer Stimme lockte die Schauspielerin, Sprecherin und Sängerin Luise Wunderlich die Büchereibesucher in das viel gepriesene Land, in dem angeblich Milch und Honig fließen. Auf dem von Harald Schneider unkonventionell inszenierten und musikalisch so mitreißenden wie auch lautmalerisch solide tragenden Klangteppich flogen die beiden Künstler mit ihrem Publikum in die unterschiedlichsten Ecken und Zeitzonen der durchaus auch Angst und Schrecken bereitenden, nicht immer nur schönen, neuen Welt.

Literarisch unsterblich gemachte Mutmaßungen, Annäherungen und tatsächlich stattgefundene Begegnungen heimatlos gewordener Auswanderer mit der harten Realität einer Fremde, die ihre Heimat werden sollte, wurden auch akustisch sicher verortet. Harald Schneider, der an der Swiss Jazz School Bern und an der Hochschule für darstellende Kunst und Musik Stuttgart studierte und seit 2008 in Nürtingen lebt, beeindruckte durch ein wahres Sammelsurium souverän beherrschter Saxofone.

Nach seinem zum Auftakt absolvierten Defilee über die „Show-Treppe“ des Bücherei-Foyers überraschte er damit, dass er wirklich alle Töne parat hatte, derer es bedarf, um nicht nur den Fuß auf den neuen Weltteil zu stellen, sondern diesen zwischen Mut und schierer Verzweiflung, banger Hoffnung und gefürchteter Chancenlosigkeit mutig angepackten Brückenschlag auch hörbar zu machen.

Jazz vom Feinsten gehörte dabei genauso ins fantasievoll zusammengestellte musikalische Reisegepäck wie nicht immer sofort erkennbare Jazz-Klassiker der zeitgenössischen Moderne oder auch das unverzichtbare „Muss i denn zum Städtele hinaus.“ Harald Schneider begeisterte besonders mit den „Originaltönen“ etwa eines durch die Ventile gepfiffenen „dahinratternden Zuges“ oder den ebenfalls lautmalerisch im Bücherei-Foyer präsenten, auf den ersten Meilen laut „hupenden“ und von kreischenden Möwen begleiteten Ozeanriesen.

Mit ihrem Kaleidoskop literarischer Texte präsentierten die Darsteller eine Revue vielseitiger, konturenscharfer Momentaufnahmen, die Protagonisten unterschiedlichster Herkunft schlaglichtartig aufleuchten und – teilweise leider oft viel zu schnell – wieder in der Dunkelheit versinken ließ.

Ohne „Lektüreliste“ wäre das Erkennen der ausgewählten Passagen ein sehr schwieriges Unterfangen gewesen. Selbst mit der Liste fiel es anfangs nicht immer leicht, beispielsweise die vielen mit Scholem Alechems „Motl, der Sohn des Kantors“ vermischten „Einsprengsel“ klar zuzuordnen.

So vielfältig die individuellen Gründe für das jeweils geschilderte Auswandern oder eine voll Verzweiflung von langer Hand geplante „spontane“ Flucht aus einem unerträglich und lebensgefährlich gewordenen Deutschland waren, so deutlich unterschieden sich auch die Eindrücke und Gefühle, denen sich Auswanderer, Abenteurer und Anarchisten nach einer quälend langen und „in der Holzklasse“ extrem strapaziösen Passage gegenüber sahen.

Ein jüdischer Uhrmacher, der mit seiner Familie mit knapper Not einem bedrohlichen und plötzlich zu allem entschlossenen Mob gerade noch entkommt, zählte genauso zum Personal wie ein bei aller kindlichen Naivität durch eine „gute Gelegenheit“ zum Dieb gewordener lebenskluger und schlitzohriger Junge aus Irland oder ein prominenter und in Amerika entsprechend begeistert hofierter 1848er-Revolutionär, für den Amerika das gefundene Paradies war, das in seiner verlassenen Heimat Deutschland nicht einmal politisch gleichgesinnte Utopisten für möglich hielten.

Vom desillusionierenden „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ von Bertold Brecht bis zu Karl Mays idealisierendem und damit Wünsche weckenden „Winnetou III“ reichte die Bandbreite der Puzzle-Teile, die dank der mitgelieferten Werk- und Autorenliste Anregungen für die vertiefende Lektüre von ausgewählten Auswanderergeschichten geben konnten.

Neugierde wurde zweifellos geweckt. Ein Juwel wie etwa Frank Mc Courts „Die Asche meiner Mutter“ konnte aber in der streckenweise fast impressionistisch hingetupften Präsentation kaum etwas von seinem überwältigenden Glanz aufblitzen lassen. Andererseits musste für diesen modernen Klassiker vielleicht wirklich nicht mehr geworben werden, da er – im Gegensatz zu manch anderen deutlich schwerer zugänglichen Fundstücken – vielleicht tatsächlich in diesem Kreis als bekannt vorausgesetzt werden konnte.