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Neue Seiten von Hilde Domin 

Lesung Professor Dr. Harald Vogel hat in der Stadtbücherei spannende Einblicke in Leben und Werk der Dichterin gegeben.

Kirchheim. Hilde Domins Lebenslauf ist von ihrer jüdischen Herkunft geprägt. Sie ist 1909 in Köln geboren und aufgewachsen, beginnt ein Jurastudium in Heidelberg, wo sie ihren späteren Mann, den Altertumswissenschaftler Erwin Walter Palm, kennenlernt. Mit ihm geht sie schon 1932 ins Exil nach Rom, wo die beiden heiraten. 1939 emigrieren sie in die Dominikanische Republik. Erst 1954 kehrt Hilde Domin wieder nach Deutschland zurück. 1961 lässt sie sich endgültig in Heidelberg nieder, wo sie 2006 stirbt. Ihre Ehe endete mit Palms Tod 1988. Hilde Domin ließ die Öffentlichkeit im Glauben, es sei eine glückliche Schicksalsgemeinschaft gewesen.

Mit dem Tod ihrer Mutter 1951 verliert sie eine wichtige Bezugsperson und beginnt aus dieser Lebenskrise heraus Gedichte zu schreiben. 1959 erscheint ihr ers­ter Gedichtband „Nur eine Rose als Stütze“ – mit Erfolg. Bis 1972 schreibt sie Gedichte. Als führende Vertreterin der reimlosen Lyrik verfasst sie noch poetologische Texte und veranstaltet Lesungen in ganz Europa, auch in Schulen. Barbara Haiart vom Literaturbeirat der Stadt Kirchheim hat den emeritierten Professor der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, Harald Vogel, im Rahmen der Frauenkulturtage zu einer sonntäglichen Matinee in die Stadtbücherei eingeladen, um über Hilde Domin zu sprechen. Dieser geschätzte Gast hat schon früh wegweisende Interpretationen ihrer Gedichte vorgelegt. Außerdem hatte er mit der Dichterin persönlichen Kontakt. Den Impuls für eine neuerliche Beschäftigung mit Hilde Domin haben Briefe aus ihrem Nachlass ergeben. In einem jetzt veröffentlichten Brief an ihren Bruder, den Vogel vorlas, wurde das geläufige Bild von einer harmonischen Ehe- und Schicksalsgemeinschaft mit Palm gründlich zerstört. Dass sie in der Exilzeit ihrem Mann zugearbeitet hat, geschah nicht aus eigenem Entschluss, sondern war erzwungen. Ihr heftiger Kinderwunsch blieb unerfüllt. Für ihre persönlichen Probleme hatte der Ehemann keinerlei Interesse. Andere Frauen interessierten ihn häufig.

Angesichts dieser erschütternden Mitteilungen lesen sich, so Harald Vogel, manche Gedichte jetzt „doppelt“, wie die, die Lebensverzweiflung bis hin zu Sui­zidgedanken thematisieren. Vor allem aber die Liebesgedichte, bisher dem Ehemann zugeschrieben, galten offensichtlich Rudolf Hirsch, dem Lektor des Fischer-Verlags, ihrem Geliebten, der geholfen hat, ihre Gedichte zu publizieren. Weiteren Halt gab ihr die Gewissheit, eine ernst zu nehmende Schriftstellerin zu sein, die ihre Heimat in der deutschen Sprache gefunden hat: „Die Sprache gibt mir Heimat und ein zweites Leben.“ Harald Vogel betont, dass die Rückkehr nach Deutschland weniger Rückkehr aus einem Exil, sondern ein emanzipatorisches Finden ihrer eigenen Identität war. Sie legte sich auch einen Künstlernamen zu, Hilde Domin, eine Abkürzung des Exillandes „Dominikanische Republik“.

Harald Vogel las nicht nur die Gedichte mit „der neuen zweiten Verständnisebene“, sondern gab, unterbrochen durch kurze Erläuterungspassagen, in vier Leserunden einen Überblick über Hilde Domins Werk. Ein besonderes Erlebnis war die Darbietung. Hier kam die Erfahrung der Lyrik-Bühne Esslingen zum Tragen, die Harald Vogel seit 25 Jahren leitet. Begleitet von der einfühlsamen, selbst komponierten Musikuntermalung des langjährigen Partners Johannes Weigle liest er die Texte so bedächtig und unaufgeregt, dass man spürt: Dieser Mann spricht aus tiefem Verständnis.

Das übertrug sich auf das Publikum, dem allerdings auch eine hohe Konzentrationsfähigkeit abverlangt wurde – mit entsprechender Belohnung. „Das war beeindruckend und bereichernd“, meinte eine Zuhörerin. Recht hat sie. Ulrich Staehle