Andreas Volz
Kirchheim. Das furchtbare Geschehen vom 20. September 2013 lässt auch unbeteiligte „Prozessbeobachter“ nicht kalt. Die menschlichen Ausmaße des Ereignisses – das Folge einer kurzen, unerklärlichen Unaufmerksamkeit des Lastwagenfahrers war – fasste Richterin Franziska Hermle-Buchele in ihrer Urteilsbegründung zusammen: „Die wenigen Sekunden, die da im Raum stehen, haben zu Wendepunkten in ganz vielen Leben geführt.“ Und für alle, deren Leben in diesen wenigen Sekunden eine negative Wende genommen hat, ist das, was da passiert ist, schrecklich, entsetzlich und bestimmt nicht wiedergutzumachen.
Der Oberstaatsanwalt hatte diese Gedanken am Schluss seines Strafantrags ganz ähnlich ausgeführt. Nachdem er eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten gefordert hatte – die gerade noch zur Bewährung auszusetzen sei – und dazu noch einen Führerscheinentzug für die Dauer von zwei Jahren, stellte er fest: „Strafrechtlich wäre das damit gesühnt. Aber die Traumabewältigung ist ein längerer Prozess.“ Sowohl für die Angehörigen des Ehepaars, das damals ums Leben kam, als auch für den Unglücksfahrer sei das „nicht so schnell zu verarbeiten“. Schon zu Beginn seiner Ausführungen hatte er grundsätzlich konstatiert: „Wir haben es hier mit einem außerordentlich tragischen Fall zu tun. Zwei Menschen haben in ihrem Auto keine Chance und werden buchstäblich zermalmt.“ Die Tochter habe beide Eltern verloren, auch Eltern hätten dadurch ihre Kinder verloren und der Angeklagte sei seither traumatisiert.
Es handle sich um eine Geschichte, „die sicher allen hier sehr nahe geht“. Beinahe zynisch erschien es dem Oberstaatsanwalt, die „rohen Fakten“ aufzählen zu müssen: „20. September, 5.50 Uhr, ein Sattelzug, mit über 30 Tonnen beladen, bremst zu spät, obwohl noch sehr viel Zeit zum Bremsen geblieben war.“ Die Ursache, warum der Fahrer zu spät gebremst hatte, lasse sich nicht mehr feststellen. Es habe keine Ablenkung gegeben. Weder sei ein DVD-Player im Lastwagen gefunden worden, noch habe der Fahrer telefoniert oder eine Zigarette geraucht. Er sei nicht alkoholisiert gewesen und habe alle vorgeschriebenen Ruhezeiten eingehalten. Trotz allem sei es zu dem unerklärlichen Unfall gekommen, der nun als fahrlässige Tötung in zwei Fällen zu werten ist. Auch wenn es sich nicht um eine grobe Fahrlässigkeit handelte, sei der Zusammenprall durchaus vorhersehbar und vermeidbar gewesen. Der Unfall und die tödlichen Folgen seien also dem Angeklagten „zurechenbar“.
Der Verteidiger des Angeklagten unternahm anschließend den Versuch, das Unerklärliche doch noch irgendwie zu erklären: Laut Psychotherapeutin habe es sich beim Zustand seines Mandanten vor dem Unfall um eine „dissoziative Störung“ gehandelt – um einen Zustand, der „nicht planbar“ sei. Der Lastwagenfahrer sei in dem Moment „nicht da“ gewesen. „Er war eigentlich ein Stück weit ,auf Autopilot‘.“ Er habe Lichter der Baustelle wahrgenommen und kurz vor dem Aufprall Bremslichter. Ansonsten erinnerte er sich an nichts.
Bei der Baustelle auf der Autobahn hatte es sich um eine Nachtbaustelle gehandelt, die gegen sechs Uhr wieder vollständig geräumt gewesen wäre. Um 5.50 Uhr war nur noch die linke Spur gesperrt. Ein anderer Sattelzug verlangsamte auf der rechten Spur seine Geschwindigkeit, weil der Verkehr leicht stockte. Der Opel, in dem das Ehepaar aus Aichelberg unterwegs war, bremste auch, nicht aber der Lastwagen des Angeklagten.
Ein Sachverständiger erklärte vor Gericht, dass der 42-Jährige nur leicht hätte bremsen müssen, um den Unfall zu vermeiden. Acht Sekunde hätte er insgesamt zur Verfügung gehabt. Hätte er 4,2 Sekunden vor dem Zusammenstoß gebremst, wäre er noch rechtzeitig zum Stillstand gekommen. So aber habe er erst 1,25 Sekunden vor dem Unglück zu bremsen begonnen und sei mit einer Geschwindigkeit von 65 Kilometern pro Stunde auf den vorausfahrenden Sattelzug geprallt. Vom physikalischen Vorgang her betrachtet, sei es ein Zusammenprall zweier Lastwagen gewesen. Der Opel zwischen den Sattelzügen spielte rein technisch gar keine Rolle: „Man kann es nicht eindeutig in zwei Kollisionen aufteilen. Das war eigentlich nur ein einziges Geschehen.“ Für die Insassen des Opels habe dabei keinerlei Chance bestanden.
Chancen lässt dagegen das Urteil dem Angeklagten: Zu den Bewährungsauflagen gehört ein dreimonatiges Fahrverbot, weil das Gericht keine generelle „Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen“ feststellte. Er kann also seinem Beruf mit geringen Einschränkungen weiter nachgehen. Eine weitere Auflage ist die Zahlung von 2 500 Euro „Schmerzensgeld“ an die verwaiste Tochter des Ehepaars – wobei die Richterin den Begriff „Schmerzen“ eigentlich als zu harmlos ansah, um den plötzlichen Verlust beider Eltern zu beschreiben. Der Betrag sei auch den finanziellen Verhältnissen des Angeklagten geschuldet und könne nur eine symbolische Funktion haben. Das ganz große Dilemma der Urteilsfindung umschrieb Franziska Hermle-Buchele folgendermaßen: „Die gerechte Strafe, die kann es hier gar nicht geben, denn nichts bringt die beiden Menschen zurück.“