Kirchheim. Auch der Omnibus schien mit der Fahrt zunächst nicht einverstanden zu sein, denn Feuer speiend verweigerte er schon in Gruibingen die Weiterfahrt. Mit einem Ersatzbus wurde das erste Ziel im schönsten Herbstlicht doch noch rechtzeitig erreicht: die ehemalige Klosterkirche Fürstenfeldbruck. Auf den ersten Blick und nach wenigen Takten auf der Fux-Orgel von 1737 war allen klar: Hier, und nicht in München selbst, muss der Orgelhimmel sein. Dieser Ansicht war auch Bezirkskantor Ralf Sach, der die Instrumente ausgewählt hatte.
Nach einem solchen unüberbietbaren Höhepunkt gleich zu Beginn müsste die Weiterfahrt zur supermodernen Orgel der Pfarrkirche Herz-Jesu einem Höllensturz gleichkommen, so befürchteten nicht wenige. Es kam ganz anders. Zwar kein barocker Orgelhimmel mehr, aber paradiesische Zustände mit einer spektakulären Orgel in einem futuristischen Kirchenraum, einem Architektur-Universum, das, zum Dauer-Event geworden, die Besucher in Massen anzieht.
Professor Karl Maureen, der Titularorganist, berichtete stolz, dass zu den regelmäßigen Konzerten im Schnitt zehnmal so viele Besucher kommen wie in allen anderen Münchner Kirchen. Nach seiner brillanten Vorführung der Wöhl-Orgel – der Architektur mehr als ebenbürtig – wurde ihm das gerne geglaubt. Und bei der Vorführung in Form eines exquisiten Orgelkonzerts war Fürstenfeldbruck schon beinahe vergessen. Denn auch das moderne Instrument war auf die, allerdings experimentelle, Akustik perfekt abgestimmt.
Bei jeder Orgelfahrt begegnet man ja nicht nur den Instrumenten, sondern auch ihren Spielern. Gelegentlich ist der Organist sogar faszinierender als die Orgel. Doch eine Orgel den Menschen nahezubringen, musikalisch, architektonisch, begrifflich und emotional, das gelingt nur ganz wenigen. Mit Bezirkskantor Ralf Sach hatten es die Orgeltouristen vergleichsweise gut. Von manchen Instrumenten ließ er sich spürbar inspirieren, bei anderen musste er sich länger auf die Suche machen nach dem musikalischen Kern. In solchen Fällen boten aber die architektonischen Besonderheiten der Orgeln und Kirchen genug Möglichkeiten für vergleichende Studien. Dabei ergaben sich manche Überraschungen: In der eher biederen neugotischen Kirche Sankt Johann Baptist von München-Haidhausen ließ ein seelenlos wirkender Attrappenprospekt das Schlimmste befürchten. Doch bei der Orgelvorführung zeigte sich das hemdsärmlige und zugleich süßliche Wesen einer spätromantischen Max-Reger-Orgel, deren Klänge berauschend durch die hallige Kirche fluteten. Prospekt und Instrument hatten rein gar nichts miteinander zu tun.
Spätestens nach diesem Erlebnis war ein roter Faden dieser Orgelfahrt zu ahnen: Es gibt keine Orgel an sich; erst im Zusammenklang mit Architektur und Akustik wirkt das Instrument gut oder mittelmäßig, überragend oder miserabel. Schlagender Beweis: das Erlebnis in der Theatinerkirche. Es ist eine riesenhafte, reich stuckierte Barockkirche, allerdings in wenig ansprechendem Weißgrau. Die putzig klein erscheinende Orgel vor dem gigantischen Hochaltar versteckt sich fast ganz hinter einem grauen Vorhang. Aber welch ein Klang! Unbeschreiblich räumlich, rund und sinnlich, mächtig wie von einer Zauberorgel. In dieser Kirche müsste selbst ein Harmonium grandios klingen.
Das glatte Gegenteil in Alt Sankt Peter, der letzten Station des Tages. Dort steht eine „Hochglanz-Orgel“ der weltberühmten Firma Klais (Bonn). Ihr Klang wirkte seltsam gebremst. Das konnte nicht nur am Organisten liegen, der wegen der Beichte nur „mit angezogener Handbremse“ spielen durfte. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass eine kriegszerstörte und wieder rekonstruierte Kirche akustisch nicht mehr so richtig funktionieren würde. Die Orgel-Fahrer waren indessen zu erschöpft, um dieser Frage noch nachgehen zu können. Erst in der Hotelbar stellte sich heraus, dass jeder etwas anderes erlebt hatte, die Meinungen aber so diffus blieben wie die Widersprüche in der ehrwürdigen Münchner Kirche.
Da war das Glockenspiel mit seinen bewegten Figuren am Münchner Rathaus schon eindeutiger. Und das ungeheure Gedränge in der Innenstadt brachte schnell alle feinsinnigen Orgelgedanken zum Erliegen.
Im evangelisch-lutherischen Sonntagsgottesdienst der gewaltigen Münchner Lukaskirche fanden sich wie in einem Brennpunkt alle Höhen und Tiefen der Orgelfahrt wieder: Glanz und Elend der Organisten, zum Beispiel, in ihrer Funktion als improvisierende Leerläufer, fantastische Kammermusiker an der Truhenorgel, als Störer auch eines atmenden Gemeindegesangs und Liturgiebelästiger schließlich in umständlichen Intonationen. Die A-Dur-Messe von Johann Sebastian Bach, vollständig in den liturgischen Ablauf integriert (oder umgekehrt), war eine Wohltat für orgelgeschädigte Ohren. Allerdings wird auch an der Isar nur mit Wasser gekocht, und nicht wenige Akteure konnten von Glück sagen, dass sie im Gottesdienst nicht von einem sachkundigen Rezensenten öffentlich beurteilt werden.
Der Sonntagnachmittag führte durch die Augsburger Baustellen-Hölle zum dortigen Orgelhimmel in Sankt Ulrich und Afra. Erster Eindruck: überaus herrliche Altäre und ein über 400 Jahre alter Orgelprospekt. Die überbordende Begeisterung des Organisten, seit wenigen Wochen erst im Amt, ließ die Teilnehmer vergessen, dass sich hinter dem kostbaren Äußeren eine durch und durch moderne Orgel verbirgt. Deren Klang hat aber auch gar nichts mehr mit ihrem Gehäuse aus dem 17. Jahrhundert zu tun. Aber allen, die auf der engen, schon von Wolfgang Amadeus Mozart gescholtenen, Wendeltreppe zur Orgelempore mehr hinaufgekrochen als geschritten waren, kam‘s wiederum wie im Himmel vor unter dem einzigartigen Gewölbe, umtost von der berauschenden Klangflut einer großmächtigen Kathedralorgel. Da kamen historisch-kritische Bedenken noch nicht einmal bis an die Schwelle des Bewusstseins.
Vorletzte Station: die Betonkirche Don Bosco – interessant, aber trist im nebligen Nachmittag. Auch die gar nicht so üble Sandtner-Orgel konnte die Stimmung nicht retten, so sehr sich der Organist auch abmühte. So hätte die Orgelfahrt grau in grau geendet, wenn nicht eine erst drei Jahre alte Sandtner-Orgel (schon wieder eine) die Ehre der Augsburger Kirchen und Orgeln gerettet hätte. In der stämmigen bayrisch-schwäbischen Jugendstilkirche Herz Jesu belohnte Ralf Sach die unverdrossenen Kirchenmusik-Freunde mit einem fulminanten, großen Bach-Präludium.
Fazit nach zwei Tagen: Orgelmusik kann die Welt nicht erlösen, aber wenigstens ein Stück himmlischer machen.