Kirchheim. Ein gänzlich unbekanntes Werk eines wohl nur Spezialisten vertrauten Komponisten kam in der diesjährigen „Musik zur Todesstunde Jesus“ in Kirchheim zur Aufführung. Bezirkskantor Ralf Sach, mit
seinem ausgeprägten Gespür für musikalisch gehaltvolle Werke abseits des landauf- und landab gespielten Kernrepertoires, hatte sich dieses Jahr das Passionsoratorium „Der leidende Jesus“ von Johann Heinrich Rolle (1716 – 1785) vorgenommen. Nicht ohne Stolz gab Ralf Sach zu Beginn des Konzertes bekannt, dass die Aufführung erst die zweite überhaupt sei und eine Einspielung bisher nicht vorliege. Johann Heinrich Rolle, ein musikalisches Wunderkind, das schon in frühen Jahren Opern komponierte, wirkte – nach einem Jurastudium – in Berlin als erster Konzertmeister in der Hofkapelle Friedrich des Großen und freundete sich dort mit dem Bachsohn Carl Philipp Emanuel an, der dort als Cembalist tätig war. In seiner Tätigkeit als Musikdirektor der Stadt Magdeburg war er auch als Pädagoge sehr geschätzt und stand mit bekannten Denkern der Aufklärung wie Klopstock oder Gellert in regem Austausch.
Nach einem kurzen, einleitenden „Largo“ von Carl Philipp Emanuel Bach für zwei Flöten und Streichorchester, das ausgeglichen und klangschön musiziert wurde, eröffneten Chor und Orchester kraftvoll und zuversichtlich das musikalische Passionsgeschehen. Bereits in den ersten Klängen war die kompositorische, musikalische Zeitenwende der Entstehung der Komposition hörbar. Hatte vielleicht der eine oder andere Zuhörer den archaisch anmutenden monumentalen Eingangsdoppelchor aus der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach oder den nervös pulsierenden Eröffnungschor aus der Johannespassion des selben Komponisten im Ohr, so führte der Eingangschor aus dem „Leidenden Jesus“ die Hörer sofort in andere Klangwelten. Das Oratorium der frühen Klassik war, wie die gesamte damalige Musik, durchdrungen vom Geist der Aufklärung, einer philosophischen Strömung, die mit ihrer geistigen Sprengkraft Europa nachhaltig veränderte.
Die neue Weltsicht suchte nach einem Ausgleich zwischen Glaubensinhalten und Vernunft , einem zentralen Begriff der Aufklärung.
So wurde auch das Leid und die Passion als notwendige Vorbereitung auf die himmlische Seligkeit verstanden, Gottes Liebe als anzustrebendes Ziel, das es zu erreichen gilt, auch unter Entbehrungen. Musikalisch setzte sich die Passion der Nach- Bach und -Händel Ära besonders durch eine einfachere Tonsprache und konzertante Arien von der Barockzeit ab. Hatten die zahlreichen Zuhörer also eine Darstellung des Leidensgeschehens mit dramatischen Rede- und Gegenredeelementen und kommentierenden Choreinwürfen erwartet, so wurden sie enttäuscht, dafür aber mit konzertanten, schönen Melodien in Arien und Chorsätzen, häufig die Tonsprache Haydns und Mozarts vorwegnehmend, reichlich entlohnt.
Der Schwerpunkt dieser Passionsvertonung lag aufseiten der Solisten, ausgedehnte Chorsätze waren selten. Die Solisten, unterstützt durch das Orchester, mussten dabei besondere stimmliche Ausdrucksmöglichkeiten und Farben bereithalten. Es kam ihnen die schwierige Aufgabe zu, oft mehrere Personen innerhalb ihres Parts darstellen zu müssen, ein Wechsel der Soliloquenten – wie zum Beispiel in den Passionen von Heinrich Schütz – war nicht vorgesehen. Eine weitere Erschwernis war, dass sich die Mezzosopranistin am Vortag des Konzerts krank gemeldet hatte und ihre Partie auf Sopran und Tenor verteilt wurde. Alle Solisten absolvierten ihre Parts hervorragend, unangestrengt auch in den Höhen mit klarer, lyrischer Stimmgebung und hervorragender Diktion. Dasselbe lässt sich auch über die Leistung des Chores sagen, der – gerade nicht „ständig am Passionsgeschehen teilnehmend“ – die Chorsätze und Choräle präsent und ausgeglichen in den Registern vortrug, ihrem Dirigenten aufmerksam auch in den sehr schnellen Tempi der Choräle folgend.
Klang der kurze Auftakt durch den Chor sehr zuversichtlich, beherrschte in den folgenden Sätzen, die rasch aufeinanderfolgten, die dunkle Schilderung der letzten Tage von Jesus das musikalische Geschehen, aufgeteilt auf Chor und Solisten, sicher unterstützt und grundiert durch das Schwäbische Kammerorchester, sowie Mitgliedern der Stadtkapelle Kirchheim. Die am Beginn des Werkes gezeigte Zuversicht schaffte sich auch im nächsten Chorsatz „Singt ihr Himmel, Gott ist Liebe“ Bahn und schien auch das ganze Werk hindurch. Die positive Glaubenssicht manifestierte sich besonders schön im Chorsatz „Wachet, stehet im Glauben“ oder in der kraftvollen Tenorarie „Herr, ermunter du uns Schwachen“, die von Tenor Hubert Mayer mit stupender Atemtechnik vorgetragen wurde. In den immer wieder eingeschobenen Rezitativen, meist von der Bassstimme vorgetragen, wusste Matthias Baur mit klangschönem Bariton, leichter Höhe und ausdrucksstarker Deklamation zu gefallen, hervorragend getragen vom Continuo aus Orgel und dem oft quasi das Geschehen kommentierenden Solocello. Einer der berührenden Höhepunkte war das Duett von Sopran und Tenor, begleitet vom Orchester „Teures Wort aus Jesu Munde“, in dem Sopran Anna-Maria Wilke und Hubert Mayer nochmals ihre hervorragende Koloraturtechnik und Gestaltungskraft zeigen konnten.
Chor und Orchester zeigten sich ihren Aufgaben sehr gut gewachsen, zupackend kräftig, aber auch lyrisch zart. Besonders schön die gute Textverständlichkeit im Chor sowie der die bis zu den letzten Chornummern transparente, intonationssichere Klang. Bezirkskantor Ralf Sach verstand es, mit klarer, präziser Leitung alle Klangkörper zu einer Einheit zu formen und die werkimmanente positive Glaubenshaltung den Zuhörern nahezubringen.