Wenn Ingrid über das vergangene Jahr nachdenkt, findet sie eines besonders auffällig: die Stille. „Als Kontaktperson der Anonymen Alkoholiker habe ich in der ganzen Corona-Zeit nur einen Anruf bekommen - im ersten Lockdown“, sagt sie. Dass der Bedarf verschwunden ist, kann sich Ingrid nicht vorstellen: „Die Probleme sind da. Man sieht sie nur nicht“, fürchtet sie.
In Deutschland ist der Alkoholkonsum im ersten Jahr der Pandemie zurückgegangen. Hauptgrund sind geschlossene Gaststätten, Bars und Clubs. Studien zeigen aber, dass diejenigen, die schon vorher zu viel getrunken haben, jetzt noch häufiger zur Flasche greifen. Allein und im Privaten.
„Wir hatten unser letztes persönliches Treffen im Oktober“, erzählt Wulf Wallis, Leiter des Freundeskreises Suchtkrankenhilfe in Kirchheim. Seither gibt es nur noch Online-Treffen. „Das ist immerhin etwas. Die Präsenz und das gemeinsame Kaffeetrinken fehlen aber.“ Bei den Anonymen Alkoholikern in Kirchheim ist die Situation ähnlich. Ingrid hat Kontakt zu einigen Mitgliedern aufgenommen und nachgehakt, wie es ihnen geht. Die Rückmeldungen beruhigen sie etwas. „Die Mitglieder kommen ganz gut zurecht“, hat sie erfahren. Trotzdem leiden viele unter dem Wegfall der Treffen. „Ich bin wieder reizbarer, empfindlicher und ängstlicher geworden“, berichtet ein Gruppenmitglied. Deshalb nimmt er jetzt fast täglich an den Treffen einer Online-Gruppe teil. Ein anderer hat, wie er berichtet, die Corona-Zeit dank der Unterstützung seiner Familie und den Ratgebern der Anonymen Alkoholiker bisher recht gut bewältigt. „Das ist aber kein Ersatz für die Meetings“, betont er. „Es fehlen die Gespräche mit anderen Betroffenen, deren Reaktionen und Mimik.“
Rainer Breuninger, Geschäftsführer des Landesverbands Württemberg der Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe, weiß um das Problem. „Selbsthilfegruppen sind die beste Prävention - eine Lebensversicherung für Betroffene“, sagt er und stellt klar: „Sie dürfen auch stattfinden. Die Corona-Verordnung lässt das zu.“
Erlaubt sind Treffen von Selbsthilfegruppen in öffentlichen Räumen, wenn sie der sozialen Fürsorge dienen und „zwingend erforderlich und unaufschiebbar“ sind. „Das ist bei Gruppen für Suchterkrankte der Fall“, betont Breuninger. Und trotzdem liegen viele Gruppen auf Eis. Die Gründe dafür sind unterschiedlich: Verunsicherung angesichts der Corona-Verordnung ist einer. Auch wollen manche Vermieter ihre Räume in Pandemiezeiten nicht zur Verfügung stellen. Vor allem aber spielt die Angst, sich anzustecken, eine Rolle. „Ein großer Teil unserer Mitglieder gehört zur Risikogruppe“, weiß Rainer Breuninger. Die meisten sind über 50. Viele haben aufgrund ihres Alkoholkonsums Vorerkrankungen und ein geschwächtes Immunsystem.
Welche Folgen der Wegfall der persönlichen Treffen in Selbsthilfegruppen langfristig hat, lässt sich im Moment schwer abschätzen. „Vor allem für Alleinstehende ist die Situation schwierig“, so Breuninger. Er sorgt sich um diejenigen, die gar nicht mehr an Gruppen teilnehmen. Denn für viele sind Online-Treffen keine Option. Das weiß auch Ingrid: „Man hat Hemmungen oder kommt mit der Technik nicht zurecht.“ Sie selbst verzichtet auch auf virtuelle Treffen. Gehört hat sie aber, dass viele neue Interessierte via Videokonferenz dazugestoßen sind.
Virtuelle Treffen hält Andreas Kiesinger, Leiter des Freundeskreises Suchtkrankenhilfe in Nürtingen, dagegen für problematisch, wenn Menschen neu zu einer Gruppe stoßen wollen. „Es geht ja um Vertrauen“, sagt er. Und das sei via Videokonferenz nur schlecht aufzubauen. Deshalb hat er eine Online-Gruppe für alle ins Leben gerufen, die jetzt aus der Sucht aussteigen möchten. „Unser Ziel ist es, ein möglichst niederschwelliges Angebot in dieser verrückten Zeit anzubieten.“