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Als die Moderne die Provinz eroberte

Neuerscheinung Ein Buch zeichnet anhand von 16 kurzen Biografien die Entwicklung im „Land um Teck und Neuffen“ zwischen 1800 und 1914 nach. Von Andreas Volz

Dampfpflügen war zu Zeiten Max Eyths (1836¿-¿1906) der Gipfel des Fortschritts in der Agrar-Technik. Heute ist es eine nahezu no
Dampfpflügen war zu Zeiten Max Eyths (1836¿-¿1906) der Gipfel des Fortschritts in der Agrar-Technik. Heute ist es eine nahezu nostalgisch anmutende Zuschauerattraktion. Archiv-Foto: Jean-Luc Jacques

Modern wollen alle sein, die Zuschreibung als „Provinzler“ lehnen sie dagegen meist kategorisch ab - denn Provinz und Moderne scheinen einander auszuschließen. Die Provinz gilt als hinterwäldlerisch, weit abgelegen von den Modeströmungen, wie sie sich in den großen Metropolen zeigen. Das „Land um Teck und Neuffen“ hat keine Weltstadt aufzubieten, da selbst das nahegelegene Stuttgart im Vergleich zu London oder Paris reichlich provinziell daherkommt. Das heißt aber noch lange nicht, dass die Menschen hier rückständig sind. Dass sie es auch nie waren, will das Buch „Provinz und Moderne im Land um Teck und Neuffen“ anhand von „16 bio­grafischen Zugängen“ aufzeigen.

Die erste Kurzbiografie ist die des Kirchheimers Johannes Kolb (1736 - 1810), der sich 1760 anschickte, einer der ersten modernen Unternehmer im Herzogtum Württemberg zu werden: Er gründete eine Textilfirma, die unter dem Namen „Kolb & Schüle“ vielen Kirchheimern noch gut in Erinnerung ist. Zu seiner Zeit musste er sich mit seinen modernen Ideen gegen heftige Gegenwehr durchsetzen. Die Zünfte versuchten, gegen seine arbeitsteilige Produktion vorzugehen, die größere Stückzahlen bei gleichbleibend hoher Qualität zu vergleichsweise niedrigen Preisen ermöglichte. Der beginnende Kapitalismus brachte bereits damals die Kritik des „Ausbeutertums“ mit sich. Herzog Carl Eugen scherte sich indessen wenig um solcherlei Kritik und ließ Johannes Kolb gewähren.

Einer von Kolbs Nachfolgern, sein Urenkel Rudolf Friedrich Schüle II, gehörte zu den Begründern der Privateisenbahn, mit der Kirchheim 1864 selbst nachholte, was das Königreich Würt­temberg versäumt hatte: den Anschluss ans Schienennetz und damit den Anschluss der Provinz an die Moderne. Immer wieder spielt die Eisenbahn in dem Buch eine wichtige Rolle - meist im Zusammenhang mit Unternehmern wie Adolf und Heinrich Scheufelen oder Max Weise. Aber auch Star­architekt Philipp Jakob Manz war für seine Geschäfte auf die Eisenbahnverbindung Kirchheims angewiesen. Selbst 1848, als noch keine Schienen in die Teck-Region führten, wäre die Revolutionsbewegung, für die in Kirchheim bis heute der Name Friedrich Tritschler steht, kaum denkbar gewesen ohne die schnelle Nachrichten­übermittlung, die dank Eisenbahn und Telegrafie zunehmend zur Normalität wurde.

Mit dem Kapitalismus befassen sich gleich mehrere Kapitel - zunächst einmal die Biografie des gebürtigen Nürtingers Johann Gottlieb (von) Süßkind (1767 - 1849), den es in die Finanzmetropole Augsburg zog. Dort machte er als Selfmademan mit Spekulationen ein Vermögen. Dem Buch zufolge soll es offenbar das größte gewesen sein, „das ein einzelner Mann in Schwaben in der Zeit zwischen 1846 und 1870 überhaupt besessen hat“. Auch hier folgt die Kritik auf dem Fuß, denn der Nürtinger Albert Schäffle (1831 - 1903) suchte den „Dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus“. Auch dem Komplex „Kapitalismus und Ethik“ ist ein Kapitel gewidmet.

Auch moderne Technik veraltet

Wichtige Kirchheimer Lokalmatadoren und Technikpioniere sind Max Eyth und Wolf ­Hirth. Während die Nachfolgemodelle von Hirths Segelflugzeugen noch heute in und um Kirchheim präsent sind, ist Max Eyths einstmals revolutionäre Technik längst überholt. Und trotzdem fasziniert das Dampfpflügen bei Vorführungen in der Heimat des Dichter-Ingenieurs die Zuschauer auch noch über 150 Jahre später. Unermüdlich reiste Max Eyth lange Jahre hinweg durch die Welt, um die damals moderne Agrar-Technik aus England zu vermarkten.

Wichtig für viele Biografien sind auch die Weltkriegserfahrungen - wesentlich die „Urkatastrophe“ des Ersten Weltkriegs. Dessen Ausbruch hat es übrigens verhindert, dass 1914 der Friedensnobelpreis verliehen wurde. Einer der aussichtsreichen Kandidaten wäre der Nürtinger Otto Umfrid (1857 - 1920) gewesen - ein Provinzler mit ausgesprochen modernen Ideen in der Kaiserzeit.