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„Beruflich und finanziell Belastete konsumieren mehr“

Corona Katrin Janssen, Leiterin der Sucht-Beratungsstelle im Landkreis, spricht über die Auswirkungen der Pandemie.

Kreis. Menschen, die ein Suchtproblem bei sich ausgemacht haben, können sich bei den vom Landkreis und vom Kreisdiakonie-Verband getragenen Beratungsstellen in Kirchheim, Nürtingen, Esslingen und Leinfelden-Echterdingen melden. Deren Gesamtleiterin ­Katrin Janssen spricht im Interview über die aktuelle Situation von Betroffenen.

Wie schätzen Sie die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Menschen mit Suchterkrankungen ein? Katrin Janssen: Eine einfache Antwort darauf gibt es nicht. Das hängt immer von der individuellen Situation der Personen ab. Es gibt Menschen mit Suchterkrankung, die vom Lockdown und von den Beschränkungen profitieren, für andere ist das eine ganz schwierige Situation.

In welchem Fall gibt es positive Effekte?

Janssen: Das gesellige Trinken ist zurückgegangen, die Spielcasinos haben zu, und die Kontaktbeschränkungen erschweren die Beschaffung von Suchtmitteln. Das wirkt stabilisierend auf Menschen, die sozial gut eingebunden sind und die jetzt beispielsweise mehr Zeit für ihre Familie haben.

Und die anderen?

Es hat sich eine Gruppe herauskristallisiert, die mehr konsumiert: diejenigen, die sich beruflich und finanziell mehr belastet gefühlt haben und bei denen die Corona-Pandemie zu Stress-Situationen geführt hat. Dazu gehören auch Frauen, die plötzlich neben Beruf und Haushalt auch noch das Homeschooling ihrer Kinder stemmen mussten. Besonders gefährdet sind außerdem Menschen, die einsam sind und wenig soziale Kontakte haben.

Hat sich die Nachfrage nach Beratung verändert?

Die Beratungsstelle hat im vergangenen Jahr weniger Neuaufnahmen gehabt, aber gleich viele Menschen begleitet. Das ist ein Zeichen dafür, dass die Menschen länger Unterstützung brauchen und könnte ein Indikator dafür sein, dass es vermehrt Rückfälle gab. Allerdings waren auch die Wartezeiten für Reha-Plätze länger. Im ersten Lockdown etwa hatten die Kliniken ihre Plätze reduziert.

Deuten weniger Neuaufnahmen dann nicht auf weniger Bedarf hin?

Für den Rückgang gibt es verschiedene Gründe. Allgemein hat die unklare Lage zu geringerer Nachfrage im Versorgungssystem geführt, angefangen bei den Vorsorgeuntersuchungen. Außerdem wussten einige gar nicht, dass die Beratungsstelle durchgehend geöffnet war. Andere hatten Sorge, sich mit Corona anzustecken, und sind deshalb nicht gekommen. Wir beraten zurzeit viel telefonisch. Das eignet sich nicht für jeden.

Eine Sucht entwickelt sich schleichend. Ab welchem Moment sollte man sich beraten lassen?

Wenn man merkt, dass ein Suchtmittel einen Zweck erfüllt. Beim Alkohol wäre das zum Beispiel, wenn jemand abends nur noch entspannen kann, nachdem er ein Glas Wein getrunken hat. Auch Veränderungen in der Häufigkeit und bei den Situationen deuten darauf hin, dass sich eine Suchterkrankung anbahnen könnte: Wenn jemand sonst nur am Wochenende oder in Gesellschaft getrunken hat und jetzt jeden Abend und auch alleine, sollte er das als Warnsignal sehen.Bianca Lütz-Holoch