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Das geistliche Wort

So lautet das Motto des in Berlin stattfindenden evangelischen Kirchentags, an dem ich in ökumenischer Verbundenheit teilnehme. Mich spricht dieser Satz aus dem Buch Genesis 16,3 an. Da geht es um eine junge, schwangere Frau namens Hagar, die auf der Flucht ist. Sie musste ihre Heimat verlassen, weil es dort nicht mehr zum Aushalten war. In einem Engel, der ihr Mut macht, begegnet sie Gott und spricht ihn an: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Dass Gott sie in ihrer verzweifelten Situation wahrnimmt, richtet sie auf und gibt ihr Kraft. Hagar steht aber für alle Menschen. Gott ist einer, der jeden von uns sieht, der sich jedem einzelnen Menschen zuwendet, dem jede und jeder wert ist, beachtet und geachtet zu werden. „Von Gott angesehen zu werden, begründet die Würde des Menschen als Gottes Geschöpf“ - so die Generalsekretärin des Kirchentags, Ellen Überschär. Das hat er uns auch in Jesus gezeigt. Dieser hat vor allem auf die Menschen geschaut, die von anderen übersehen, nicht beachtet, ja missachtet wurden. Er gab ihnen wieder Ansehen, Würde und Werthaftigkeit. Wenn wir aber wissen, dass Gott uns sieht, achtet und annimmt, dann ist es nur konsequent, wenn sich dies auch im Umgang miteinander zeigt. Wahrgenommen und geachtet werden, das ist eine Grundsehnsucht, die wir alle haben. Es ist doch ein schönes Gefühl, wenn mich jemand beachtet, sich für mich interessiert, wenn ich für jemanden wichtig bin. „Du siehst mich“ - davon leben wir. Das Einander-Ansehen bedeutet Anerkennung, Zuwendung, Wertschätzung. Das Gegenteil davon wäre Wegsehen, und Wegsehen ist gleichbedeutend mit Missachtung und Ignoranz, was leider nicht selten ist in unserer Gesellschaft und Welt. Viele sehen nur noch narzisstisch sich selbst - leider auch vermehrt Machthaber unserer Tage.

„Du siehst mich“ - das heißt für uns, besonders die Menschen in den Blick zu nehmen, die nicht das Notwendige zu einem guten Leben haben, die arm sind, die am Rande stehen, die sich abgehängt fühlen oder die mit ihrer derzeitigen Situation schwer zurechtkommen. „Du siehst mich“ - das lädt uns auch ein, unser Gesicht den Geflüchteten zuzuwenden, sich für sie und ihre Situation zu interessieren, sie in erster Linie als Menschen wahrzunehmen. „Du siehst mich“ - das gilt auch Andersdenkenden, Anderslebenden, Andersglaubenden. Gerade Berlin ist eine Stadt, in der es eine große Vielfalt von Nationalitäten, Kulturen und Religionen gibt, wo ein Zusammenleben nur gelingt, wenn die Menschen sich sehen, sich achten und in ihrer Andersartigkeit und Unterschiedlichkeit respektieren, ja sich auch davon bereichern lassen. Aber das ist überall angesagt, auch in Kirchheim, und es wird hier auch vielfach so gelebt.

„Du siehst mich“ - dieses Motto des Kirchentags sollten wir zu unserem Lebensmotto machen, denn es stärkt unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt und das friedliche Miteinander.

Reinhold Jochim, Pastoralreferent der katholischen Kirchengemeinde St. Ulrich, Kirchheim