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„Die Flächenpolitik ist altertümlich“

Bürgerentscheid Siegfried Nägele, Vorsitzender des Kreisbauernverbands, spricht von Ablasshandel und kritisiert, wie seit Jahrzehnten die Landwirte und ihre Produktionsflächen gegen die Industrie ausgespielt werden. Von Iris Häfner

Hungerberggeplante Ansiedlung von zukunftsorientierter Industrieproduktion
Hungerberggeplante Ansiedlung von zukunftsorientierter Industrieproduktion

Siegfried Nägele findet deutliche Worte, er will sich nach jahrelangen, nicht eingehaltenen Versprechen nicht mehr die Butter vom Brot nehmen lassen. „Ich halte es für unlauter, wenn Arbeitsplätze gegen Flächenverbrauch ausgespielt werden. Man könnte meinen, wenn der Hungerberg nicht realisiert wird, verlieren wir in ganz Baden-Württemberg unseren gesamten Wohlstand und alle Arbeitsplätze gleich mit“, reibt er sich verwundert die Augen. Die Flächen- und Baupolitik ist aus seiner Sicht vollkommen altertümlich und ideenlos. „Die Forderungen sind seit Jahrzehnten immer die gleichen: immer mehr Land zubauen. Gerade weil wir das Land der Tüftler und Denker sind, fällt uns da was anderes und Besseres ein“, ist er überzeugt, denn schließlich koste auch die Umlegung dieser Flächen viel Zeit und Geld, weshalb der Verband Region Stuttgart an dem Vorhalte- standort klebe, um bei Bedarf schnell reagieren zu können. Die Krux: keiner weiß, wer kommt - so die offizielle Lesart.

Gute Böden sind wichtig

Der Land- und Forstwirt aus Überzeugung hat Ideen und Vorschläge, wie Landwirtschaft und Industrieproduktion gemeinsam existieren können - ohne ständigen Flächenverbrauch, der stets zulasten der Bauern und der Umwelt geht. 100 Hektar werden allein im Landkreis Esslingen jedes Jahr neu versiegelt, das ist ein Prozent der Ackerfläche. „Seit Jahren höre ich: Das ist der letzte Hektar, den wir brauchen. Wenn die Geschwindigkeit so weiter geht, haben wir in 100 Jahren keine einzige Ackerfläche mehr im Kreis. Gute Böden sind wichtig, das ist Nachhaltigkeit in Reinform, wir bauen Essen an“, sagt Siegfried Nägele. Stattdessen werde die Lebensmittelproduktion immer mehr ins Ausland verlagert. Die Landwirte hier müssen mit der Situation klarkommen, wenn sie regelmäßig Flächen verlieren. „Bei uns sieht jeder, wie wir unsere Arbeit machen. Wegen kurzer Transportwege ist die CO2-Bilanz besser.“

Kein Verständnis hat er, wenn bester Filderboden für einstockig gebaute Supermärkte mit riesigen Parkflächen unwiederbringlich verloren geht. Ausgleichsmaßnahmen würden nur bedingt helfen, Boden lasse sich nun mal nicht vermehren. „Deshalb läuft das Argument mit den Ersatzflächen in die Leere - die werden irgendwo irgendwem weggenommen“, sagt Siegfried Nägele. Wegen der Arten- und Naturschutzpolitik werden weitere vier Prozent der Fläche für Blühstreifen und anderes den Landwirten weggenommen - das sind vier Prozent Verlust des Einkommens. Ihn ärgert, dass die Landwirtschaft gegenüber der Industrie nachrangig behandelt wird. „Auf einem Hektar Boden leben fünf Tonnen Mikroorganismen. Wir fahren quasi mit Plattfuß auf dem Acker, damit wir mit den Rädern nicht so tief einsinken, denn diese wahnsinnig vielen Tierchen helfen uns bei unserer Arbeit, lassen die Pflanzen überhaupt erst wachsen. Das machen wir mit Dachbegrünung nicht wett, diese Organismen atmen und produzieren.“

„Man kann nur ignorant sein, wenn man die Auswirkungen des Klimawandels mit seinen Hagel- und Starkregenereignissen nicht zur Kenntnis nehmen will. Mit dieser Flächenpolitik provoziert man mehr und heftigere Unwetter. Alle reden vom Klimaschutz - und dann baut man den Hungerberg und die Bohnau zu.“ Was die (Kommunal-)Politiker sagen und tun - das passe einfach nicht zusammen. „Alle jammern, was im Ahrtal passiert ist, und alle machen weiter wie bisher. Das ist Doppelmoral, da nutzt auch ein Klimaschutzbeauftragter nichts, wenn es am Willen fehlt, grundsätzlich was zu ändern, das ist Augenwischerei“, legt er den Finger in die Wunde. Flächenverbrauch sei für alle nachteilig. Dabei sei innerhalb kurzer Zeit viel möglich. „Wenn uns jemand vor zwei Jahren erzählt hätte, wir würden wie die Japaner mit Maske rumlaufen, hätten wir ihn ausgelacht.“

Für eine vernünftige Raumplanung ist es aus seiner Sicht nicht zu spät. „Wir müssen die bereits versiegelte Infrastruktur besser und sinnvoller nutzen. Große Firmen- oder Supermarkt-Parkplätze kann man bebauen, die Autos aufs Dach oder in den Untergrund verlegen. Wir müssen intelligent und modern planen, dadurch kann man Infrastruktur-Kosten sparen, anstatt eine Fläche mit Straßen, Leitungen und Kanälen komplett neu zu erschließen“, so Nägele. Es brauche Modelle mit attraktiven Angeboten, damit die Firmen bereit sind, zu investieren. „Landwirtschaft und Industrie - beides würde gehen, wenn die Wirtschaft ein bisschen Verantwortung übernehmen und nicht nur rumjammern, sondern sich auch auf neuen Pfaden bewegen würde. Dazu braucht es aber auch Mut. Das was gerade läuft, ist Ablasshandel - und das ärgert mich. Uns Landwirten wird buchstäblich der Boden unter den Füßen weggezogen, weil uns ein Großteil der von uns bewirtschafteten Fläche nicht gehört.“

Der Name Hungerberg führt auf die falsche Fährte

Die Böden auf dem Dettinger Hungerberg kennt Siegfried Nägele aus Bissingen nicht aus eigener Bewirtschaftung. Über die Qualität hat er sich jedoch sehr wohl mit seinen Dettinger Kollegen ausgetauscht. „Das sind unsere besseren Böden“, hat er zur Antwort bekommen. Der Hungerberg sei nicht zu vergleichen mit dem Käppele, dort wären die Böden sandiger und damit nicht so gut.

„Wie in der Bohnau und auf dem Galgenberg in Kirchheim, gibt es auf dem Hungerberg gute Böden. Das sind die letzten Ausläufer der Filderböden“, erklärt Siegfried Nägele. Schon bei der Podiumsdiskussion in der Schlossberghalle erklärte er, dass der Name vielleicht damit zusammenhänge, dass man dort hinging, wenn man Hunger hatte - und es anderswo nichts mehr gab. „Quasi so wie auf den Ölberg“, sagt er. ih