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„Die Welt darf nicht länger zuschauen“

Bürgerkrieg Im Norden Äthiopiens tobt ein Bürgerkrieg. Eine von dort stammende Kirchheimerin schildert die humanitäre Katastrophe in ihrer Heimat. Von Katja Eisenhardt

Die in Kirchheim lebende Selam recherchiert im Internet, wie dramatisch sich die Lage in ihrer Heimat zuspitzt.Foto: Katja Eisen
Die in Kirchheim lebende Selam recherchiert im Internet, wie dramatisch sich die Lage in ihrer Heimat zuspitzt.Foto: Katja Eisenhardt

Selam sitzt am schön gedeckten Kaffeetisch in ihrem Kirchheimer Zuhause. Ihren richtigen Namen möchte die 51-Jährige lieber nicht in der Zeitung lesen, ebenso wenig wie ihr Mann und ihre Tochter, die mit am Tisch sitzen. Zu groß ist die Angst, wegen der Schilderungen zur aktuellen dramatischen Bürgerkriegslage in ihrer Heimatregion Tigray im Norden Äthiopiens angefeindet zu werden. Das hat die Familie mit zahlreichen Mitstreitern bereits mehrfach auf ihren europaweiten Demonstrationen erleben müssen. „Selam bedeutet in meiner Heimat Frieden“, erklärt die Kirchheimerin. Es sei ein sehr passender Name für den größten Wunsch, den ihre Familie und sie haben.

Mit Beginn des Bürgerkrieges am 4. November 2020 in Tigray holt die Vergangenheit sie wieder ein, genau wie ihren vier Jahre älteren, aus Eritrea stammenden Mann: „Die Geschichte wiederholt sich jetzt bereits in der dritten Generation.“ Vor 30 Jahren ist Selam geflohen. „Es war damals schon schlimm, aber so etwas Menschenverachtendes und Brutales, wie es aktuell geschieht, haben wir in diesem Ausmaß noch nicht erlebt. Heute kommt zusätzlich noch der Einsatz einer hoch entwickelten Maschinerie, Technologie und Chemie zum Einsatz“, sagt das Ehepaar.

Willkürliche Massaker

Zivilisten in Tigray würden von den Streitkräften der äthiopischen Bundesarmee, Milizen aus der Nachbarregion Amhara sowie eritreischen Soldaten willkürlich in wahren Massakern getötet. Es gebe unzählige Vergewaltigungen von Mädchen und Frauen - allein in den ersten vier Monaten des Krieges wurden rund 10 000 Opfer sexueller Gewalt bekannt. Die Dunkelziffer mag weit höher liegen, vermutet Selam. „Es gibt Plünderungen, eine vorsätzliche Zerstörung der Nahrungsmittel, der Ernte, des Saatguts, der Ackerflächen und der landwirtschaftlichen Geräte. Die Tiere der vielen Bauern werden gestohlen oder getötet. Hunger wird als Waffe eingesetzt.

Millionen der Bevölkerung Tigrays droht eine Hungersnot, Hundertausende sind auf der Flucht. Wasser-, Strom-, Bank-, Telefon- und Internetdienste wurden gezielt außer Betrieb gesetzt. Das gesamte Bildungs-, Wirtschafts- und Gesundheitswesen sind zusammengebrochen“, fasst Selams 23-jährige Tochter die humanitäre Katastrophe in Tigray zusammen. Selams Familie lebt noch in Mek‘ele, der Hauptstadt Tigrays. Zumindest hofft sie das: „Seit drei Monaten gibt es keinerlei Kontaktmöglichkeit. Ich weiß nicht, ob meine Schwester, mein Onkel, Nichten und Neffen noch am Leben sind. Auch über die Medien bekommt man kaum etwas mit, es kommen mit offizieller Erlaubnis keine internationalen Journalisten mehr ins Land, genauso wenig wie die dringend benötigten Hilfsorganisationen und -güter. Diese tägliche Angst und Ungewissheit ist einfach nur furchtbar und unerträglich.“

Ziel der äthiopischen Regierung unter Machthaber Abiy Ahmed sei die Errichtung eines Zentralstaats mit nur einer Sprache, einer Kultur, einer Zentralregierung. „Die einzelnen ethnischen Gruppen sollen keine Rolle mehr spielen. Er will den Menschen ihre Identität nehmen“, bringt es Selam auf den Punkt. Bisher sei Äthiopien vergleichbar mit dem föderalen System Deutschlands in zehn Bundesländer mit jeweiliger Landesregierung aufgeteilt gewesen. Wie hierzulande Berlin, ist Addis Abeba Hauptstadt und Sitz der Regierung, der bisher Vertreter aller ethnischen Gruppen angehörten.

Jetzt sind Tausende aus Tigray stammende Menschen willkürlich inhaftiert worden, allein aufgrund ihrer Herkunft. Die Region Tigray wurde laut Selam gänzlich vom Rest des Landes abgeschnitten, auch wenn die regionalen Kämpfer der TDF (Tigray Defence Forces) die Hauptstadt Mek‘ele aktuell wieder zurückerobert haben. „Die Mentalität in meiner Heimat Tigray vergleiche ich gern mit jener im Schwabenland: Die Menschen sind fleißig, sie arbeiten viel, sie bilden sich weiter, haben etwas aufgebaut, waren autonom. Tigray hatte in den letzten 27 Jahren viel Gutes erreicht und sich für die Diversität im Land eingesetzt.

All das wird jetzt durch Kriegsverbrechen der übelsten Art wieder zunichte gemacht“, sagt die 51-Jährige. „Die Welt kann hier nicht mehr länger nur zuschauen, diese humanitäre Katastrophe muss beendet werden“, fordert Selam. Den Menschen in ihrer Heimat helfe aktuell wohl nur noch ihr starker Wille und tiefer Glaube, um durchzuhalten: „Mein Herz blutet. Es ist so traurig und furchtbar, was dort seit zehn Monaten passiert. Ich bete nur, dass es schnell ein Ende findet, sonst existiert das Volk der Tegaru bald nicht mehr.“

Das Spendenkonto für die Opfer des Bürgerkriegs in Tigray lautet: Entwicklungsinitiative für Tigray in Deutschland e.V., Sparkasse Heidelberg, IBAN: DE30 6725 0020 0000 0380 75, BIC: SOLADES1HDB.