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geistliches Wort

„Lieber Gott, ich habe heute noch nicht getratscht oder die Beherrschung verloren, war noch nicht gemein oder egoistisch. Ich habe noch nicht gejammert und keine Zigarette geraucht und die Kreditkarte noch nicht belastet. Aber in etwa einer Minute werde ich aus dem Bett aufstehen. Dann brauche ich wirklich deine Hilfe.“

Ein schönes Morgengebet. Leider höre und spreche ich es viel zu oft als Abendgebet; natürlich ohne den letzten Satz. Es sind jene tristen Rückblicke auf den Tag oder das Leben mit den Worten: „Ich hab‘ mir nichts vorzuwerfen.“

Ich mag dieses Morgengebet, weil hier ein Mensch nicht bei sich selbst bleibt, sondern sagt: Ich brauche deine Hilfe. Der hat verstanden, warum er als Mensch unter Menschen lebt und warum er als Mensch mit Gott lebt. Ich darf Hilfe brauchen. Das Leben ist kein Einstellungstest und kein Schaulaufen. Das Leben ist das Leben. Es gibt kein besseres Wort dafür. Es muss nicht noch irgendeinem anderen Zweck dienen.

„Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“, hat Albert Schweitzer gesagt. Dazu brauche ich oft Hilfe und oft ist meine Hilfe für andere gefragt. Sogenannte „Prüfungen“, auch schwere, gibt es im Leben mehr als genug. Aber sie sind eben keine Prüfungen! An ihrem Ende stehen nicht Noten und Bestenlisten oder auch nur das Eingeständnis, nichts falsch gemacht zu haben.

Am Ende der schwere Zeiten soll vor allem eines stehen: Dankbarkeit. Und wenn ich mittendrin stecke, darf ich Hoffnung haben und um Hilfe bitten. Wenn man einmal sieht, wie ein Mensch als Säugling auf die Welt kommt, wird man wohl sagen dürfen: Es gibt nichts Menschlicheres als zu bitten! Unmenschlich dagegen ist es, wo man in Not nicht mehr bitten darf, sondern nur noch Hilfe bekommt, wenn man eine Gegenleistung bieten kann.

Bitte ist ein genauso schönes Wort wie Danke. Das gilt für den Menschen vor Gott erst recht. Ich werde wieder mehr Morgengebete sprechen.

Axel Rickelt Pfarrer der Evangelischen Stadtkirchengemeinde in Kirchheim