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Geistliches WortDas Leben schenken

Iris SönningPfarrerinverstärkt das Team der Kirchheimer  Stadtkirchengemeinde
Iris SönningPfarrerinverstärkt das Team der Kirchheimer Stadtkirchengemeinde

Oma, ich habe dem Regenwurm das Leben geschenkt!“ Strahlend und stolz zeigt mir mein fünfjähriger Enkel, dass er den Regenwurm vom Gehweg behutsam in einen nahegelegenen Grünstreifen gelegt hat … „Da in der Erde fühlt er sich wohl und niemand kann ihn zertreten!“

Ich staune. Zum einen über die Achtsamkeit für ein Wesen, dass manch anderer eher ekelig findet oder gar nicht beachtet. Zum anderen über die Ausdrucksweise: „Ich habe ihm das Leben geschenkt!“ Fast beschämt frage ich mich: Wann bin ich selbst das letzte Mal so behutsam mit einem scheinbar so unbedeutenden Teil der Natur oder Schöpfung umgegangen? Wann hatte ich Augen dafür? Oder habe ich mich darum gesorgt?

Kinder können uns Erwachsenen da manchmal die Augen öffnen. Sie sehen und beobachten anders. Sie entdecken ihre Welt und Umwelt voller Staunen. Und mit viel Zeit! In den paar Tagen, in denen wir Großeltern unsere Enkel zu Besuch hatten, kamen wir auf Wegen, die wir sonst in wenigen Minuten hinter uns bringen, kaum voran. Alle paar Meter gab es etwas Neues zu entdecken. Ob Regenwurm oder Weinbergschnecke, Tannenzapfen oder ein vom Regen glänzender Stein - alles ist ein kleines Wunder!

Und mir fiel der Satz Jesu ein: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Reich Gottes kommen“ (Matthäus 18, 3). Wenn ich Jesus richtig verstehe, meint er, dass wir Erwachsenen uns die Offenheit, die Spontaneität oder das Staunen von Kindern bewahren oder wieder neu aneignen sollten, weil wir dann nämlich wirklich Augen für seine Welt haben und sie als das große Wunder wahrnehmen, das sie ja ist. Vielleicht würden wir dann auch achtsamer damit umgehen, als wir das oft tun. Albert Schweitzer hat von der „Ehrfurcht vor dem Leben“ gesprochen.

Der zentrale Satz seiner Ethik heißt: „Ich bin Leben inmitten von Leben, das leben will“ und führt zu einer Haltung, die alle anderen Geschöpfe dieser Erde als Mitgeschöpfe achtet und ­ihnen, wo möglich, „das Leben schenkt“, so wie mein Enkel dem Regenwurm.

Iris Sönning Pfarrerin der Kirchen­gemeinde Kirchheim