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Geistliches wortEinladung zur „Sehschule“

Wer kennt als Brillenträger nicht die Kurz- oder die Weitsichtigkeit? Bei der Kurzsichtigkeit kann man zwar die nächste Umgebung sehen, aber in der Weite bleibt vieles verschwommen. Im Gegensatz dazu die Weitsichtigkeit - bei ihr verliert das Naheliegende seine Konturen, das Entfernte lässt sich da aber gut erkennen. Kurz- und Weitsichtigkeit sind aber nicht nur Augenkrankheiten - sie sind auch weitverbreitete „Herzkrankheiten“. Wenn Antoine de Saint-Exupéry im kleinen Prinz sagt „Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“, dann können uns diese Herzfehler zu schaffen machen und gefährlich werden. Ein „kurzsichtiges Herz“ nämlich sieht nur das Oberflächliche, blickt nicht durch auf den eigentlichen Grund, auf das wahre Wesen. Selbst über Kleinigkeiten kann ein solches Herz nicht hinwegsehen. Vielmehr lässt es sich fesseln und erdrücken von den Alltagssorgen, vom Kleinkram und verliert so auch den Überblick. Ein „weitsichtiges Herz“ dagegen übersieht nicht selten den Nächsten und das Nächstliegende. Zu sehr ist ein solches Herz fixiert auf Großartiges, auf große Träume und weit entfernte Ziele, und übersieht dabei das Kleine.

Was tun, wenn wir unter solchen „Sehstörungen“ leiden? Auch noch so gute Kardiologen sind da keine zu empfehlende Adresse. Ich bin dankbar, einen „Herz-Optiker“ zu kennen, der mich immer wieder auf die Herzkrankheiten testet. Meine Weitsichtigkeit korrigiert er, indem er mir die Geschichte vom barmherzigen Samariter erzählt. Damit lenkt er meinen Blick auf das Naheliegende und Notwendige. Er öffnet mir die Augen für den hilfsbedürftigen Menschen in meiner Umgebung, den ich allzu oft übersehe. Mein „Herz-Optiker“ korrigiert auch Gott sei Dank meine Kurzsichtigkeit: Hinter allem Verwirrenden in meinem Leben zeigt er mir das Ziel, auf das ich zugehe. Er eröffnet mir einen neuen Durchblick und eine neue Lebensperspektive, wenn ich ängstlich auf die kleinen Dinge starre, die mir großen Kummer machen, und bringt in mein kleinkariertes Denken eine Weite, indem er mich dazu ermuntert, im unscheinbaren Samen das reife Getreidefeld und im winzigen Senfkorn die große Staude zu sehen. Durch diese Brille, die mir mein „Herz-Optiker“ anpasst, sehe ich weiter und kann entdecken, dass die Veränderung der Welt längst im Gange ist - in jedem, der den ersten Schritt zur Versöhnung und zum Frieden tut, und in jedem, der eine gelöste Atmosphäre verbreitet. Wenn Sie mit dem Herzen sehen wollen, empfehle ich meinen „Herz-Optiker“, Jesus Christus, und ebenso als Lektüre ein sehr gutes Handbuch, das Neue Testament.

Franz Keil

Pfarrer von St. Ulrich in Kirchheim