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Geistliches wortLiebe Deinen Nächsten

Vor einiger Zeit habe ich ein Lebkuchenherz mit einer Aufschrift gesehen, die mich zweimal hinsehen ließ. „Ich liebe mich“ stand da drauf. Mich? Im Sonntagsevangelium lese ich heute den Satz, den Jesus gesagt hat: „Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben, mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken“ und „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. Punkt. Also doch auch mich? Das Volk Israel hat in vielen Gedanken und Gebeten ausgedrückt, wie sie zu ihrem Gott stehen. In unendlich vielen Variationen sagen sie, dass sie Gott loben, ihn preisen, ihn rühmen. Aber nirgends steht, dass sie ihn lieben. Dieser Satz geht ihnen anscheinend nur schwer über die Lippen.

Heute ist das eine noch größere Herausforderung. Es geht um eine persönliche Entscheidung, ihn zu suchen, ihm auf die Spur zu kommen. Wir wissen, dass er sich nicht einsperren lässt in Konfessionen und in unsere Kirchen. Viele Menschen fragen ja gerade in dieser Zeit der Corona-Pandemie, wo er denn sei. Wo zeigt er sich uns? Die Realität ist nicht nur das, was uns passiert, sie entsteht durch die Bedeutung, die wir den Ereignissen beimessen. Wenn wir schauen, was uns jeder neue Tag bringt, auch an Gutem, dann kann es sein, dass wir beginnen, Gott zu begegnen und mit ihm ins Gespräch zu kommen. Vielleicht zeigt er sich wie eine Wende, eine Weiche, die zur Veränderung führt. Das kann einer Sammlung von Momenten der Dichte, Schönheit und Klarheit gleichen. Wir alle kennen solche Augenblicke. Da können wir beginnen, Gott zu lieben, uns immer von Neuem von ihm überraschen zu lassen. Dann ist die Nächstenliebe auch gar nicht mehr so schwer. Sie ist eine Antwort auf die Erkenntnis, selbst gewollt und geliebt zu sein, ohne Vorleistung, einfach so, weil Gott die Liebe ist. Sie reicht für alle. Wir helfen, sie zu verteilen, indem wir den Nächsten lieben wie uns selbst.

Laotse hat geschrieben: „Pflichtbewusstsein ohne Liebe macht verdrießlich. Verantwortung ohne Liebe macht rücksichtslos. Gerechtigkeit ohne Liebe macht hart. Wahrheit ohne Liebe macht intolerant. Erziehung ohne Liebe macht widerspruchsvoll. Klugheit ohne Liebe macht gerissen. Freundlichkeit ohne Liebe macht heuchlerisch. Ordnung ohne Liebe macht rechthaberisch. Macht ohne Liebe macht gewalttätig. Ehre ohne Liebe macht hochmütig. Besitz ohne Liebe macht geizig. Glaube ohne Liebe macht fanatisch.“

So können wir anderen beistehen - gerade auch jetzt, wo viele Menschen auf Hilfe angewiesen sind, weil sie Angst haben.

Winfried Hierlemann

Pfarrer der Gemeinde Maria Königin in Kirchheim