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GWÖ stellt die Wirtschaft auf den Kopf

Vision „Brutto-Nationalglück“ oder „Better-Life-Index“ als Maßstab wirtschaftlichen Erfolgs: Christian Felber fordert in der Kirchheimer Stadthalle den Wandel vom Kapitalismus zur Gemeinwohl-Ökonomie. Von Thomas Zapp

Der passionierte Tänzer Christian Felber ist auch körperlich in Form: Das sorgte im Publikum für anerkennenden Beifall.Fotos: Ca
Der passionierte Tänzer Christian Felber ist auch körperlich in Form: Das sorgte im Publikum für anerkennenden Beifall.Fotos: Carsten Riedl

Mitten im Vortrag steht Christian Felber Kopf. Der passionierte Tänzer nutzt seine körperliche Fitness gerne als Stilmittel in seinen Vorträgen, um zu veranschaulichen, worum es ihm geht: Das Wirtschaftssystem auf den Kopf zu stellen, oder eigentlich vom Kopf auf die Füße. Rund 75 Zuhörerinnen und Zuhörer sind in die Kirchheimer Stadthalle gekommen, um mal wieder live den Ausführungen des „Erfinders“ der Gemeinwohl-Ökonomie unter dem Titel „Ist unsere Wirtschaft noch zu retten?“ zuzuhören.

Wobei es „Erfinder“ nicht wirklich trifft. Denn kein geringerer als der griechische Philosoph Aristoteles habe den Begriff der Ökonomie definiert als Bestreben, das Gemeinwohl zu mehren. Geld ist in diesem System ein Mittel, um diesem Zweck zu dienen. Denn, das weiß auch der Volksmund: Geld macht nicht glücklich. Das steht ganz im Gegensatz zur „Eigentumsmaximierung“ der klassischen Wirtschaftswissenschaften, die Felber etwas abfällig als „Mainstream“ bezeichnet. Sie propagieren einen Kapitalismus, in dem das Individuum seine persönlichen Bedürfnisse befriedigt, aber nicht diejenigen seiner Mitmenschen berücksichtigt. Dass diese Sichtweise nicht nur im Gegensatz zur Ökonomie im aristotelischen Sinn steht, sondern auch zu den Prinzipien des Grundgesetzes und mehreren Länderverfassungen, darunter der baden-württembergischen, weist Felber im Laufe seines Vortrags nach.

Der kapitalistische Blickwinkel sei zu einseitig und ­übersehe viele Faktoren, meint Felber. So habe niemand die Finanzkrise 2008 vorhergesagt, die das Dilemma der Deregulierung der Finanzmärkte offenbarte. Eine Ökonomie braucht in Felbers Vorstellung eine ganzheitliche Fragestellung wie die Gemeinwohl-Ökonomie. Sie schlägt letztlich nichts Neues vor, nur einen „besseren“ Zugang zur Wirtschaft, in dem Erfolg nicht die „maximale Verfügbarkeit der Mittel“ ist, also die Anhäufung von Reichtum.

Erfolg neu definiert

Vielmehr werde Erfolg in der Erreichung von insgesamt 20 Zielen definiert, darunter Gesundheit, demokratische Teilhabe oder Schutz der Umwelt, sowohl im Unternehmen als auch auf staatlicher Ebene. „Better-Life-Index“ oder „Brutto-Nationalglück“ sollen das „Bruttoinlandsprodukt“ ablösen, fordert er. Laut Felber arbeiten 5000 Menschen derzeit mit oder an der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ), ein Mitglied aus Ghana wird zitiert: „Sie erlaubt mir, wieder Mensch zu sein.“ Auch Vaude-Geschäftsführerin Antje von Dewitz zählt dazu.

Sogar die Corona-Krise hat in dieser Theorie ihren Platz: Weil die Beanspruchung der Ökosys­teme in der traditionellen oder „Mainstream-Wirtschaftswissenschaft“ nicht berücksichtigt wird, erobert der Mensch zunehmend den Lebensraum der Wildtiere, die bislang mit der Zivilisation nicht in Berührung kamen. Mit der Folge, dass bislang unbekannte Viren von Wildtieren auf den Menschen überspringen können. „Der Schutz der Artenvielfalt ist zu unserem ­eigenen Nutzen“, sagt Felber.

Um all das zu erreichen, bedarf es aber einer Weiterentwicklung des demokratischen Systems. Sein zweites großes Thema ist der Wandel der liberalen Demokratie zu einem zunehmend „autoritären System“. Der Begriff „postdemokratisch“ fällt bei ihm häufiger und meint, dass der Wille der Mehrheit in den Parlamenten ausgebremst wird. Die Lösung sieht Felber in Bürgerräten und regelmäßigen Volksabstimmungen, um die Ziele einer Gemeinwohl-Ökonomie gemeinsam zu definieren. „Wir brauchen wieder eine souveräne Demokratie“, sagt er. Die Macht soll buchstäblich wieder vom Volk ausgehen.

Dass es dabei auch Konflikte geben kann, zeigt ein spontaner Feldversuch in der Stadthalle, bei der die Zuhörerinnen und Zuhörer definieren sollen, welches maximale Monatseinkommen in einer Gesellschaft möglich sein sollte. Als das Ergebnis „Faktor 20 des Mindesteinkommens“ herauskommt, meldet sich eine Stimme aus dem Publikum. „Ich bin selbstständig und muss auch für Krisenzeiten vorsorgen. Warum sollte ich mein Einkommen limitieren?“ Man bekommt eine Ahnung, dass es in der Gesellschaft viele verschiedene Vorstellungen von „Gemeinwohl“ gibt. Aber wie heißt es so schön: Große Ziele erreicht man, indem man viele kleine Schritte geht.