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„Oft sind wir die Einzigen am Sterbebett“

Interview Während die Zahl der Neuinfektionen abnimmt, kämpft das Personal auf der Intensivstation in Kirchheim weiter um das Leben von Covid-Patienten. Von Antje Dörr

Alltag auf der Intensivstation in Kirchheim: Pfleger wachen über beatmete Covid-Patienten.Foto: pr
Alltag auf der Intensivstation in Kirchheim: Pfleger wachen über beatmete Covid-Patienten.Foto: pr

Wie ist die Lage auf der Intensivstation der Medius-Klinik? Machen sich die sinkenden Zahlen bemerkbar?

Johannes Gommel: (schüttelt resigniert den Kopf) Im Gegenteil. Das dauert, bis die sinkenden Fallzahlen sich auswirken. Mag sein, dass sich nicht mehr so viele anstecken. Aber die, die sich in den vergangenen Tagen oder Wochen angesteckt haben, die sind unser Problem. Wir haben immer einen Zeitversatz. Bis die Infizierten auf der Intensivstation sind, vergehen meist viele Tage, manchmal Wochen.

Welches Spektrum, welche Bandbreite an Covid-19-Patienten haben Sie in den vergangenen Monaten gesehen?

Gommel: Wir hatten auch leichte Verläufe, die nur Sauerstoff gebraucht haben. Aber das ist nicht die Regel. Wer auf der Intensivstation ist, hat in der Regel irgendein größeres Problem. Wir haben Patienten gehabt, die viele Wochen bei uns gelegen haben, wenn sie es überlebt haben. Das Äußerste, was wir hier an Therapiemaßnahmen für Covid-Patienten machen können, sind die künstliche Beatmung, Dialyse, Bauchlage. Eine ECMO, also eine Maschine, die die Lunge ersetzt, haben wir hier nicht.

Wenn Sie die drei Wellen der Pandemie Revue passieren lassen, was war in Ihren Augen jeweils kennzeichnend für die Lage auf der Intensivstation in Kirchheim? Was waren für das Personal die besonderen Herausforderungen?

Gommel: In der ersten Welle konnten wir die Patienten noch ganz gut verlegen, wenn wir ihnen hier nicht mehr helfen konnten. Für die ECMO, also die künstliche Lunge, müssen die Patienten nach Stuttgart, Ludwigsburg oder Tübingen. In der dritten Welle haben wir das Problem, dass wir für die Patienten häufig keine Betten mit ECMO mehr finden. Der Großraum Stuttgart ist einfach ausgelas- tet. Noch ein Unterschied: In der ersten Welle waren wir die Helden der Nation, alle haben uns applaudiert. In der zweiten Welle war das schon nicht mehr so. Und in der dritten Welle kommt zumindest gefühlt gar nichts mehr. Wir haben das Gefühl, es interessiert die wenigsten, was wir hier machen. Bis auf die Patienten und deren Angehörige natürlich. Kürzlich haben wir ein riesiges Geschenkpaket von einem ehemaligen Covid-19-Patienten bekommen.

Was macht die Behandlung von Covid-Patienten so belastend? Ist es das Arbeiten in Schutzkleidung, ist es die Unberechenbarkeit?

Gommel: Der Covid-Patient ist ein schwerstkranker Mensch, der ständig für Überraschungen meist negativer Art sorgt. Der sich akut verschlechtert, ohne dass man weiß, warum. Mit Schutzkleidung stundenlang in einem Zimmer mit zwei Covid-Patienten zu sein, die beide beatmet werden, das ist echt heftig. Auch psychisch. Wenn selbst erfahrene Kollegen sagen „Was passiert denn da mit meinem Patienten?“, dann merkt man diese Hilflosigkeit. Es ist belastend, dass wir oft die Einzigen am Sterbebett sind. Das macht uns wirklich was aus. Beim Sterben gehört ein Angehöriger ans Bett, nicht wir. Oder nicht nur wir. Wir haben uns bemüht, haben ab der zweiten Welle durchaus Angehörige ans Sterbebett gelassen. Aber es ist schwierig, den richtigen Moment abzupassen. Manchmal verschlechtern sich die Patienten so schnell.

Franziska Hahn: Ich merke, dass ich in der dritten Welle wirklich kaputt bin. Dass ich nicht mehr für andere einspringen kann, weil ich diesen Tag Ruhe für mich brauche. Und für meine Familie. Vier Tage im Monat impfe ich im Kreisimpfzentrum. Das müsste ich nicht, aber die Bevölkerung braucht das ja. Das Anstrengende ist, dass die Patienten so lange hier liegen. Ich habe den Eindruck, dass es zwei Drittel der bei uns behandelten Patienten nicht oder mit deutlichen Folgeschäden überlebt. Man macht sich wochenlang Mühe, und am Ende packt man einen Menschen in einen schwarzen Sack. Das ist schwer und richtig unwürdig. In der ersten Welle tat das noch sehr weh, aber man lernt gezwungenermaßen damit umzugehen. Ich will gar nicht so herausgehoben werden. Auch für die, die nicht arbeiten können, ist es schwer. Ich brauche keine Sonderzahlung. Wir brauchen Personal. Wenn ich heute sehe, wie viele schwer kranke Patienten hier liegen und was wir an Personal haben, hoffe ich nur, dass wir keinen Notfall bekommen. Wenn auf Station ein Notfall ist, stehe ich häufig da und weiß nicht, wie ich’s machen soll. Ich stehe auf der Isolier-Station, in Vollmontur und sehe, wie die anderen Kollegen rennen. Aber ich habe gar keine Möglichkeit, ihnen zu helfen. Gottseidank sind wir ein Top-Team, wie eine zweite Familie. Und wir haben einen Vorgesetzten, zu dem wir einfach mal kommen und weinen können.

Gommel: Letzte Woche Montag hatten wir exakt ein Bett frei, auf das wir einen isolierten Covid-Patienten hätten nehmen können. Und wir hätten drei Covid-Patienten übernehmen sollen. Eine Kollegin sagte zu mir letzte Woche, wir haben das Gefühl, wir stehen seit Monaten mit dem Rücken zur Wand. Genau so ist es. Wir sind ein ganz tolles Team, und wir leben von der Begegnung. Aber das gemeinsam Pause machen, gemeinsam Essen gehen, das geht gerade alles nicht. Pausen werden unterbrochen.

Hahn: Oder es gibt gar keine Pausen.

Covid-19-Intensivpatienten haben eine hohe Sterblichkeit. Wie gehen Sie damit um?

Gommel: Dass der Tod zum Leben dazu gehört, ist allen klar. Aber es ist ein Unterschied, ob jemand mit 80 plus stirbt oder mit Mitte 50, Anfang 60, und gerade noch mitten im Leben stand. Schlimm ist es, dass wir den Patienten hinterher in einen Plastiksack verpacken müssen. Es wirkt unmenschlich. Dieses Gefühl, wenn wir den Reißverschluss hochziehen, das macht was mit einem, es ist auch für uns grausam und nur sehr schwer auszuhalten.

Macht es, dass man in dem Job nicht mehr arbeiten möchte?

Gommel: Ich gebe zu, da mache ich mir wirklich manchmal Sorgen. Selbst bei Kollegen, die sonst mit Leib und Seele Pflegekraft sind, merke ich, dass die Kraft zur Neige geht. Wir wünschen uns verlässliche Freizeit und verlässliche Dienstpläne. Personell sind wir eigentlich für unsere Bettenzahl gut aufgestellt, also für den „Normalbetrieb“. Von der politischen Ebene waren und sind wir enttäuscht. Ich sage nur: Bonuszahlungen, bessere Stellung der Pflege. Man hat manchmal das Gefühl, dass wir für wahlkampftaktisches, mediales Auftreten recht sind, aber dann dauert doch alles sehr lange oder verläuft irgendwie im Sande.

Was war Ihnen im Umgang mit Angehörigen wichtig? Bei Covid-19 ist die Begleitung durch Angehörige ja viel weniger möglich als bei anderen Krankheiten.

Hahn: Die Angehörigen dürfen nur kommen, wenn der Patient verstirbt. Für die Angehörigen ist das sehr schwer. Sie können nur anrufen, und das machen sie auch. Für mich ist das in Ordnung. Was haben sie denn, wenn nicht uns am Telefon?

Gommel: Für den Heilungsverlauf und für den Menschen, der da liegt, wäre Besuch natürlich förderlich. Auch wenn der Patient nicht bei Bewusstsein ist. Die Angehörigen können wir als Pflegekräfte nicht ersetzen.

Wie groß war die Angst, sich selbst zu infizieren?

Gommel: Nicht groß, ich hatte aber auch keine Zeit, darüber nachdenken. Zwei Kolleginnen haben sich angesteckt: Eine Service-Kraft und eine Krankenschwester. Beide sind keine Patienten bei uns geworden, darüber bin ich sehr dankbar.

Hahn: Groß. Glücklicherweise bin ich jetzt geimpft.

Gab es auch schöne Momente im Kampf gegen Covid?

Hahn: Über die Patienten kann ich das leider nicht sagen. Die, die beatmet sind, überleben das häufig nicht. Und die, die überleben, überleben es oft nicht in einem guten Zustand. Es ist schwer, sich an Schönes zu erinnern, weil das Negative so überwiegt. Schön war und ist, dass unsere Kollegen vom Zentrum für Ambulantes Operieren (ZAO) da sind, wenn wir sie brauchen. Toll war, wie uns im Ehrenamt so viele Menschen unterstützt haben. Aber das war in der ersten Welle. Wo ist das jetzt?

Gommel: Die Situation als ein Covid-19 Patient aus der ersten Welle, den wir lange betreut haben, uns im Oktober besucht hat in einem für seinen schweren Verlauf unglaublich guten Zustand. Das hat uns sehr bewegt. Und, ich muss immer wieder sagen, der gewaltige Zusammenhalt im Team.

Welche Botschaft möchten Sie an die Bevölkerung senden?

Hahn: Dass sie einfach noch ein bisschen durchhalten und sich an die Regeln halten sollen. Und an das, was vorgeschrieben ist. Und dass sie sich Gedanken machen sollen über eine Patientenverfügung. Die meisten unserer Patienten hier haben nämlich keine.

Gommel: Das Durchhalten lohnt sich. Wir sehen, dass die Impfungen wirken. Wir sehen fast keine über 80-Jährigen mit Covid mehr in unseren Kliniken, weil dieser Personenkreis bereits geimpft ist.