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„Reden, Kuscheln und Schmusen“

Teilhabe Auch Menschen mit einer geistigen Behinderung wünschen sich Nähe, Sexualität und Partnerschaft. Deshalb hat Pro Familia gemeinsam mit der Lebenshilfe eine spezielle Kursreihe gestartet. Von Julia Nemetschek-Renz

Zwei, die sich gefunden haben und zusammen das Leben genießen. Foto: Lebenshilfe/David Maurer.
Zwei, die sich gefunden haben und zusammen das Leben genießen. Foto: Lebenshilfe/David Maurer.

Lena Schneider (Name von der Redaktion geändert) hat ein Problem: Sie interessiert sich für einen Mann. Die Beiden kennen sich schon ewig von der Arbeit, waren jetzt mal Kaffee trinken und sie hat ihn in seiner neuen Wohnung besucht. „Er hat mir gesagt, dass er mich nett findet und dass ich so schön bin!“ Sie strahlt und genießt das Kennenlernen: Reden, Kuscheln und Schmusen sei einfach toll. Nur - jetzt hat sie ein Problem: Sie ist auf der Suche nach einem Geschenk zum Einzug. „Er hat gesagt, dass er nichts möchte und schon alles hat, das ist echt schwierig mit den Männern“, sagt sie und schüttelt den Kopf. So weit scheint alles komplett vertraut.

Das Thema ist oft noch ein Tabu

Lena Schneider hat eine geistige Behinderung und lebt im ambulant unterstützen Wohnen der Lebenshilfe Kirchheim. Ihr Freund ist in eine WG der Lebenshilfe gezogen. Sie arbeiten zusammen in der Werkstatt und mögen sich. „Zum Mensch sein gehört die Sexualität dazu, schon immer“, sagt Bärbel Kehl-Maurer, Vorstandsvorsitzende der Lebenshilfe Kirchheim. Dass Menschen mit einer geistigen Behinderung ein Recht auf Sexualität haben, sei seit Jahren fest im Grundsatzprogramm der Lebenshilfe verankert und doch - in der Mitte der Gesellschaft ist das Thema noch nicht angekommen. Und zwar nicht deshalb, weil die Menschen mit einer geistigen Behinderung eine andere Art der Sexualität hätten, sagt Bärbel Kehl-Maurer, die Wünsche seien genau die gleichen: Liebe, Nähe, Geborgenheit. Doch in der Realität haben es Menschen mit einer geistigen Behinderung ungleich schwerer, einen Partner zu finden oder überhaupt an gute Informationen zum Thema Sexualität zu kommen.

Deshalb hat der Pro Familia Landesverband Baden-Württemberg in Kooperation mit dem Lebenshilfe-Landesverband 2019 das Projekt „Behinderung, Sexualität und Partnerschaft“ gestartet. Es wird vom Sozialministerium aus Mitteln des Landes gefördert. Der erste Schritt war eine Umfrage im Jahr 2020: Rund 500 Menschen mit einer geistigen Behinderung haben mitgemacht: 42 Prozent gaben an, einen Partner zu haben, rund 50 Prozent finden Informationen über Sexualität hauptsächlich im Internet, rund 30 Prozent der Menschen mit einer geistigen Behinderung fehlt Wissen zum eigenen Körper, zu Sex und Partnerschaft. „Und genau diese Wissenslücken wollen wir füllen“, sagt Joachim Elger, Diplom-Psychologe in der Pro Familia Beratungsstelle Kirchheim. 15 Menschen mit einer geistigen Behinderung haben am ersten Kurs „Freundschaft, Liebe, Partnerschaft“ teilgenommen. Das Spannende sei für ihn gewesen, dass es um genau die gleichen Themen ging, wie in all seinen anderen Kursen auch. „Verliebt sein, Nähe, Distanz, Verhütung, Gefühle.“

Und die Leiterin der Pro Familia Beratungsstelle, Andrea Reicherzer, ergänzt: „Wir wollen die Menschen mit Behinderung durch Wissen stark machen. Sie dürfen spüren: Was fühlt sich gut an, was nicht. Und zu einer Berührung, die ich nicht mag, darf ich immer Nein sagen.“

Heilpädagogin Sabine Grandl vom familienentlastenden Dienst der Lebenshilfe organisiert die Kursreihe und sagt, dass viele Menschen mit Behinderung kein passendes Gegenüber für ihre Fragen finden. Und die Rückmeldung einer Mutter sei so nett gewesen nach dem ersten Kurs: Ihr Sohn habe erzählt, dass viel Zeit zum Reden war, über Sex und Penis und so, aber mehr wollte er nicht erzählen, da sie vereinbart hätten, alles dort im Raum zu lassen. „Und hey, wir haben da früher doch auch nicht mit unseren Eltern drüber geredet“, sagt Sabine Grandl.

Und was macht Lena Schneider jetzt mit ihrer Frage nach dem richtigen Geschenk für einen Mann? Sie ist noch immer ratlos, trinkt ihren Kaffee, lächelt und sagt: „Er tät sich freuen, wenn ich zu ihm rüber komm, und das mach ich, die Zeit ist doch auch schön.“

Info Der nächste Kurs „Freundschaft, Liebe, Partnerschaft“ ist am Samstag, 30. Oktober, ganztags, im Zentrum für Familie und Selbsthilfe im Steingau-Quartier. Anmeldemöglichkeit und weitere Informationen gibt es bei Sabine Grandl, erreichbar über die Email-Adresse fed@lebenshilfe-kirchheim.de. oder unter der Nummer 0 70 21/9 70 66 12,