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Schleichender Verlust

Zur Berichterstattung über die Erinnerungsfeiern am 27. und 29. Januar

In den letzten Tagen wurde in sehr berührenden und eindrücklichen Erinnerungen einer Zeit gedacht, in der in Deutschland eine kaum fassbare Zahl an Menschen verfolgt, entwürdigt und schließlich brutalst umgebracht wurde: um ihres Glaubens willen, um ihrer politischen Einstellung willen, um ihres persönlichen Eigenseins willen. Zutiefst ergreifend waren die Berichte der Überlebenden des Holocaust und die dabei zu erlebenden, oft von Vergebung und Verzeihen geprägten Erzählungen, aber auch die Bewusstwerdung der bürokratisch mitleidslosen Vernichtung von Menschen in einem bestens organisierten „industriellen Komplex“.

Diese Erinnerungsstunden ließen den damaligen Verlust an Achtung, Respekt und Ehrfurcht vor der „unantastbaren Würde“ des Menschen in besonderer Eindringlichkeit zum Bewusstsein kommen. Eine Folge dieser Konfrontation mit diesen Ereignissen war für mich die bedrückende Erkenntnis, wie sehr wir heute wieder mit einem schleichenden Verlust an Respekt, Achtung und Ehrfurcht, an einer Wahrnehmung für das „Würdevolle“ des Menschen konfrontiert sind: in der Politik, im Wirtschaftsleben, in der Welt der Wissenschaft, im sozialen beziehungsgetragenen Miteinander, ganz besonders erschreckend aber für mich als Arzt innerhalb unseres Gesundheitssystems, das längst zu einem kommerzialisierten pekuniär verbetriebswirtschaftlichten „industriellen Versorgungskomplex“ „verunstaltet“ - und dadurch auch die ursprünglichen heilerischen Impulse, der in diesem System Tätigen behindert, konterkariert beziehungsweise bewusst verhindert oder unterminiert. Das „wehrt den Anfängen“ ist längst überschritten. Umso wichtiger ist es, aufgerüttelt und innerlich ergriffen von den Ereignissen des Holocaust, sich immer überall und jederzeit auch und gerade heute sich der „unantastbaren Würde“ und „ewigen Entelechie“ des Menschen bewusst zu werden, jeder an dem Ort und unter den Menschen, der seinen Wirkungsort innerhalb der Menschheit umschreibt.

Dr. Matthias Komp, Kirchheim