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Sommerfrische auf den Fildern

Tourismus Die Straßenbahnlinie „END“ sollte eigentlich Arbeiter von den Fildern rasch ins Neckartal bringen. Die Denkendorfer nutzten die Bahn auf ihre Weise und lockten die Städter als Ausflügler und Urlauber auf die Fildern. Von Ulrike Rapp-Hirrlinger

Frauen in Kostüm und Hut und Männer in Knickerbockern und Sakko neben Denkendorfer Bäuerinnen in Kittelschürzen auf Ochsenfuhrwerken mit Güllefass – diese Fotomotive aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg warfen bei Reinhard Mauz Fragen auf. Er befasst sich seit Jahren mit der Denkendorfer Ortsgeschichte und hat unzählige historische Fotos gesichtet und archiviert. Was wollten die Städter im ländlichen Denkendorf? Wie kamen die Sommerfrischler auf die Fildern? Die Antwort lieferte ein Prospekt der Stuttgarter Straßenbahnen (SSB), der für die „Höhenstraßenbahn“ auf die Fildern warb.

1926 war die Strecke von Esslingen über Nellingen nach Denkendorf (END) eröffnet worden. 1929 wurde sie nach Scharnhausen und Neuhausen verlängert. In dem Faltblatt wird die bequeme Fahrt auf die idyllische Filderhöhe mit ihrer ansprechenden Landschaft wie in einem Reiseprospekt angepriesen. Hingewiesen wird auch darauf, dass alle zwölf Minuten die Straßenbahnlinie 26 direkt vom Stuttgarter Schlossplatz na ch Esslingen verkehrt. Ein Katzensprung also ins ländliche Idyll. Das nutzte wohl auch Reinhard Mauz ’ Vater Erich. Der Stuttgarter ist 1931 gemeinsam mit seinem Bruder Theodor und einer Bekannten bei einem Ausflug in Denkendorf abgebildet. „Sie waren typische Stadtmenschen und sahen das als touristisches Angebot“, sagt Mauz.

 

Die Touristen waren Exoten.
Sie hatten mit den Alteingesessenen wenig zu tun.

„Immer die steil aufragenden Gipfel der Alb zur Linken, zur Rechten weithin sichtbare, schön gruppierte Waldpartien, fruchtbare Felder und Wiesen“ – so euphorisch wird die Straßenbahn-Fahrt nach Denkendorf beschrieben. Im Ort selbst erwarte den Besucher „die wohl reichartigste und schönste romanische Klosterkirche Württembergs“ mit allerlei spätgotischen Sehenswürdigkeiten im Inneren. So werden Ausflügler und Urlauber gelockt. Für Mauz ist damit auch klar, was es mit dem Begriff „Kurhaus“ auf sich hat, den die Alteingesessenen noch heute für die Villa der Klostermühle benutzen.

Die Denkendorfer erkannten laut Mauz rasch den Nutzen der neuen Schienenverbindung und entwickelten ein Geschäftsmodell. Ziel der Straßenbahn war es eigentlich, die Arbeiter von den Fildern rascher und bequemer in die Fabriken im Neckartal zu bringen. Warum diese Möglichkeit nicht umgekehrt nutzen und Leute nach Denkendorf bringen, fragte man sich am Ort. Gasthäuser und Pensionen eröffneten und warben um Gäste – auch im Prospekt der SSB. Sie trugen nicht nur die klassischen Namen wie „Lamm“, „Bären“, „Rössle“ oder „Linde“, sondern auch „Gasthaus zur Filderhöhe“ und „Café Vinçon“. Hier wurden sowohl Tagesausflügler wie auch Übernachtungsgäste willkommen geheißen. „Vor der Straßenbahn gab es in Denkendorf keine Cafés“, weiß Mauz.

Auch das „Kurhaus Klostermühle“ wurde mit dem Blick auf die Straßenbahn gebaut und 1926 eröffnet, erzählt Gabriele Schick, die Enkelin des Besitzers Wilhelm Rommel. Im SSB-Prospekt bewirbt der Konditormeister das Haus als „Kaffee, Restaurant und Fremdenpension“ und „erstes Haus am Platze mit schönem Garten“, das „in Küche und Keller nur das Bes­te“ biete. Dass das Kurhaus gerne von Sonntagsausflüglern angenommen wurde, weiß Gabriele Schick von ihrer Mutter. So seien am Wochenende bis zu 100 Kuchen gebacken worden. „War das Wetter schlecht, war das natürlich eine Katastrophe.“ Ein Nebeneffekt des – wenn auch bescheidenen – Tourismus: Etliche Frauen im Ort halfen in den Küchen und Gaststuben aus und bekamen so bezahlte Arbeit.

 

Bevor die Straßenbahn kam,
gab es keine Cafés in Denkendorf.

 

Doch nicht nur Tagesausflügler kamen ins Kurhaus. Wie illuster die Übernachtungsgäste waren, lässt sich noch gut am Gästebuch ablesen, das Gabriele Schick aufbewahrt hat. Die Reisenden kamen aus Frankfurt, Mannheim, Karlsruhe, Essen, Berlin, Tübingen und Düsseldorf. 1927 logierte im Kurhaus aber auch ein Arzt aus Prag und 1931 beherbergte Rommel Gäste aus London. „Eine solche Übernachtung konnten sich nur Betuchtere leisten“, weiß Mauz. Unter den Besuchern waren Kaufleute, Vertreter, Geschäftsführer, Ärzte, Ingenieure und Beamte. Die meisten, das zeigen die Aufzeichnungen, blieben nur wenige Tage. Manche Gäste seien aber auch über Wochen geblieben und andere regelmäßig wiedergekommen, hat Schick von ihrer Mutter erfahren. Einige hatten sicher auch im Kloster zu tun, vermutet Mauz. Dort befand sich damals ein Volkshochschulheim für Mädchen. Dies, so vermutet Mauz, war wohl auch der Grund, dass die Schriftstellerin Tami Oelfken aus Berlin nach Denkendorf reiste und im Kurhaus wohnte.

Das Gästebuch wurde übrigens regelmäßig vom Bürgermeister kontrolliert. Davon zeugen Anmerkungen, in denen dieser unter anderem eine ordentliche Führung der Unterlagen anmahnte. „Die Touristen waren Exoten im Ort. Sie hatten mit den Alteingesessenen wenig zu tun. Das zeigen schon die Fotos.“ Doch womit brachten die Gäste ihre Tage zu? Die Klosterkirche war relativ rasch besich­tigt. Spazierengehen und Vollverpflegung – vermutet Mauz. Zudem lockte noch das Freibad, das 1931 eingeweiht wurde.

 

Mit dem Zweiten Weltkrieg war der Tourismus in Denkendorf im Wesentlichen vorbei. Das „Café Vinçon“ schloss und auch die „Filderhöhe“, die später als Gasthaus „Ochsen“ wiedereröffnet wurde. Die meisten anderen Wirtshäuser bestanden zwar weiter, doch statt der Sommerfrischler nutzten sie nun verstärkt Vereine, Firmen oder Familien. „Die Bevölkerung, die anfangs beiseite gestanden hatte, füllte die Lücke“, sagt Reinhard Mauz. Auch das Kurhaus schloss im Krieg. Die Rommels eröffneten stattdessen eine Strickerei.