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Steimle löst alle Fesseln

Radsport Mit seinem Etappensieg bei der Slowakei-Rundfahrt ist der Weilheimer seiner Helferrolle entschlüpft. Der erste Erfolg nach seinem schweren Sturz im Frühjahr ist ein Fingerzeig ins neue Jahr. Von Bernd Köble

Völlig ausgepumpt, aber glücklich: Jannik Steimle nach seinem Etappensieg am Freitag in der Slowakei.Foto: Roth
Völlig ausgepumpt, aber glücklich: Jannik Steimle nach seinem Etappensieg am Freitag in der Slowakei.Foto: Roth

Die größte Herausforderung wartet erst hinter der Ziellinie. Das Gläschen Champagner beim Champions-Dinner ist für einen überzeugten Abstinenzler wie ihn eines der wenigen Zugeständnisse ans Protokoll. Ansonsten gilt: keine Kompromisse. Es sei denn per Order von ganz oben. Wie so oft in den zurückliegenden Wochen, in denen er wie ein heißblütiger Galopper die harte Kandare gefühlt haben muss. Im weltbesten Profiteam des Radsports auf der Schwelle zur Führungskraft zu stehen, ist nicht immer einfach. Es bedeutet, eigene Interessen zurück- und alle Kraft in den Dienst der Mannschaft zu stellen. Mit seinem Etappenerfolg am Freitag bei der Slowakei-Rundfahrt ist Jannik Steimle im „Wolfsrudel“, wie sich Deceuninck Quick-Step vielsagend nennt, in der Rangordnung wieder ein Stück nach oben geklettert. Dass der Tag des lang ersehnten Erfolgs mit einem der selteneren Streckenbesuche seines Teambosses zusammenfiel, passt gut ins Bild. Vor den Augen von Patrick Levefere hat der 25-Jährige aus Weilheim am dritten Tag der Rundfahrt auf dem letzten Sprintkilometer nicht nur bohrende Zweifel, sondern auch gleich einen Weltklassemann wie Peter Sagan abgeschüttelt. Dass ihm der Slowake den Gesamtsieg am Ende um Sekunden weggeschnappt hat, lässt den Vorjahressieger kalt. „Dieser Etappensieg ist mir wichtiger als das Gesamtklassement“, sagt Jannik Steimle. „Alles, was ich nach meinem Sturz im Frühjahr an Arbeit investiert habe, hat sich in dieser Woche ausgezahlt.“

Quick-Step hat ihn zu dem gemacht, was für die Belgier zählt: ein Teamplayer, für den Loyalität jede Rennsekunde bestimmt. Kein Wort von ihm darüber, dass das gelbe Trikot am Freitag greifbar war, hätte man ihn 15 Kilometer vor dem Ziel nicht zurückgepfiffen, um dem aussichtsreicheren Sprinter im Team, Alvaro Hodeg, Anschluss an die Spitze zu ermöglichen. Kein Bedauern darüber, dass er sich bei der Deutschlandtour vor vier Wochen in der Helferrolle aufrieb, obwohl die Form für weit mehr gereicht hätte. Irgendwann in naher Zukunft will er es sein, der die Renntaktik vorgibt. „In diesem Team über Leistung in die erste Reihe zu kommen, das ist mein großer Ansporn“, sagt Jannik Steimle. Was er nicht sagt: In einem anderen wäre er das längst.

Deutlicher wird er mit Blick auf die WM am Sonntag in Flandern, in der Heimat von Quick-Step, im radsportverrücktesten Teil dieser Welt, auf einer Strecke, die ihm wie auf den Leib geschneidert wäre. Dass der Kampf ums Regenbogentrikot ein „krasses Spektakel“ wird, so viel steht für ihn fest. Seine Nichtnominierung ärgert ihn deshalb gewaltig. Topform im Radsport misst sich eben nicht nur an Einzelresultaten, sondern auch am Niveau von Mannschaften und ihrer Mitglieder. Beim deutschen Verband hat Steimle seit Jahren einen schweren Stand. „Ich weiß nicht, woran das liegt“, rätselt er. „Ich bin enttäuscht, aber ich lass deshalb den Kopf nicht hängen.“

Der Blick geht nach vorn. Am Mittwoch kommender Woche ist er bei der 80. Auflage der Tour de l’Eurométropole, einem der ältes­ten Rennen in Belgien, am Start.Danach stellt sich die Frage: Weltbühne oder Volkstheater? Paris-Roubaix oder Münsterland-Giro? Beides findet am 3. Oktober statt. Auf den Pavés in der „Hölle des Nordens“ ist Steimle bei Quick-Step bisher nur als Reservist eingeplant. Beim Streckentest in einer Woche soll er trotzdem mit dabei sein. Der Mann für die Frühjahrsklassiker im kommenden Jahr und das Kopfsteinpflaster auf dem Carrefour de l’Arbre oder im Wald von Arenberg - sein Sportlicher Leiter will sehen, wie das zusammenpasst. „Falls es nicht klappt, bin ich nicht enttäuscht“, betont Steimle. Das Gespenst einer sieglosen Saison hat er verscheucht, er sitzt ohne körperliche Beschwerden auf dem Rad und hat einen neuen Zweijahresvertrag in der Tasche. Das genügt für den Moment. Schließlich weiß er, dass er vor wenigen Monaten nur knapp einem Leben im Rollstuhl entronnen ist. Er sagt: „Ich bin jetzt da, wo ich wieder sein wollte, und freue mich aufs nächs­te Jahr.“