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Unsichtbar und vergessen

Zum Artikel „Oft sind wir die Einzigen am Sterbebett“ vom 15.  Mai

Wieder wird der Fokus der Berichterstattung auf die schweren Fälle gelegt. Was ist mit den anderen? Den leichten bis mittleren Erkrankten? Den „nur“ Infizierten. Sie schaffen es kaum in die Medien. Was mit denen, die nicht infiziert sind? Das ist die unsichtbare, vergessene Mehrheit. Über sie wird nicht berichtet.

Nicht über den verwitweten Rentner, der zu Hause sitzt und wartet bis der Tag vergeht, da er nicht mehr joggen oder stundenlang spazieren gehen kann. Der, um der Langeweile zu entfliehen, etwas Abwechslung zu haben, seine wenigen Einkäufe auf mehrere Läden verteilt. Der sich einseitig ernährt, weil die Möglichkeit, sich den einen oder anderen Mittagstisch munden zu lassen, eliminiert wurde. Der darauf wartet, im Kreise seiner Kinder und Enkelkinder wieder mal einige unbeschwerte Stunden verbringen zu können.

Nicht über die Jugendliche, die, aus Furcht vor einem schlechten Abschluss und ein Jahr zu verlieren, nur noch lernt. Tag und Nacht. Die aus Sehnsucht nach Klassenkameradinnen, Freunden, aufgrund fehlenden persönlichen Begegnungen und gemeinsamen Erlebnissen einen Nervenzusammenbruch erleidet. Die sich einschließt, damit die Mutter ihre Tränen nicht sieht, die fließen, weil sie sich schuldig fühlt. Schuldig, mit der Situation nicht gut genug umgehen zu können.

Nicht über den Berufstätigen, der tagtäglich zur Arbeit geht. Der unter den Einschränkungen am Arbeitsplatz leidet. Der sich nach Feierabend nicht mehr mit Freunden treffen kann, um dadurch den Tag zu verarbeiten. Der mangels Möglichkeiten abends vor der Glotze hockt, eine Hand an der Flasche, die andere an der Fernbedienung und am nächsten Morgen in Erwartung eines neuen, grauen Tages müde aus dem Bette kriecht.

Drei Beispiele, aber ganz sicher keine Einzelfälle!

Jürgen Wannenwetsch, Kirchheim