Kirchheim. Die 23-köpfige Gruppe war von der Stadtverwaltung Kaliningrad eingeladen worden. Als kompetenter Reisebegleiter konnte Vyacheslav Bogdanov gewonnen werden, der aus Kaliningrad stammt und seit 2005 in Kirchheim lebt. Der ehemalige Fernsehjournalist und langjähriges Mitglied des dortigen Stadtrates nutzte seine Beziehungen, um den Kirchheimern ein interessantes Programm zu bieten. Ein wichtiger Partner in der Planung war das deutsch-russische Haus in Kaliningrad, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, die deutsch-russischen Beziehungen zu pflegen und Anlaufstelle für die zahlreichen Russlanddeutschen zu sein.
Am Beginn stand eine Stadtrundfahrt. War das Zentrum des alten Königsberg im August 1944 durch britische Luftangriffe schon zur Hälfte zerstört, so verwandelte der Angriff der Roten Armee im April 1945, auf das sinnloser Weise zur „Festung“ erklärte Königsberg, die Innenstadt um den Schlossplatz und die Dominsel in eine Wüste. Heute sieht der Besucher dort nur noch wenige Zeugnisse der Vergangenheit: Den Dom als einziges Gebäude auf der ehemals dicht bebauten Dominsel, die Börse, die Stadttore und den Dohna-Turm. Völlig erhalten kann man heute den Befehlsbunker unter dem Paradeplatz nahe der Universität besichtigen, in dem der deutsche General Lasch am Abend des 9. April 1945 die Kapitulation unterzeichnete. 1946 erfolgte durch den Ministerrat der UdSSR die Umbenennung von Königsberg in Kaliningrad. Heute zeigt sich die Innenstadt als ein Gemisch aus Wohnbauten in sozialistischer Plattenbauweise, modernen Einkaufszentren, Supermärkten, kleinen Geschäften und wenigen erhalten gebliebenen Gebäuden.
Die Gruppe wurde vom stellvertretenden Stadtpräsidenten und dem Leiter des Sozialamts im Rathaus empfangen. Willi Kamphausen bedankte sich für die Einladung und überbrachte die Grüße von Oberbürgermeisterin Matt-Heidecker. Der Leiter des Sozialwesens berichtete von den Schwierigkeiten von Jugendlichen beim Übergang von der Schule in den Beruf. Ein gemeinsames Projekt mit dem Jugendmigrationsdienst Nürtingen zur Förderung des Übergangs Jugendlicher in den Beruf wurde angedacht.
Beim Begegnungsabend im deutsch-russischen Haus gaben Schüler der Schostakowitsch-Musikschule ein temperamentvolles Folklorekonzert, bei dem auch ein Jugendorchester mit den typischen russischen Saiteninstrumenten Domra und Balalaika sein Können unter Beweis stellte. Als ein Blick hinter die Kulissen dieser Musikschule möglich wurde, waren die Besucher vom hohen musikalischen Ausbildungsniveau sehr beeindruckt. Die Schostakowitsch-Musikschule ist eine von mehr als 40 Musikschulen in der Stadt.
Ein Tagesausflug führte auf die Kurische Nehrung. Die Halbinsel entstand vor etwa 7000 Jahren. Im Laufe der Zeit wuchs dichter Wald, der aber ab dem 16. Jahrhundert ebenso den Wanderdünen zum Opfer fiel wie die Dörfer der Fischer, die immer wieder verlegt, aber nach zwei oder drei Generationen wieder vom Sand eingeholt wurden. Auf der Nehrung besuchte die Gruppe das Nehrungsmuseum. Besonders interessierten sich die Besucher aus der Segelfliegerstadt Kirchheim für die Dokumentation der Segelfliegerei über der Nehrung in den 20er- bis 40er-Jahren. Die Bilder von den Gummiseilstarts der charakteristischen Gleiter von der etwa 50 Meter hohen Düne unterscheiden sich nur durch die Landschaft von denen der frühen Fliegerei unter der Teck. Interessant war auch der Besuch in der Feldstation „Fringilla“ der Vogelwarte Rossitten, die 1901 gegründet und bereits 1956 von den Russen wieder eingerichtet wurde. Der Leiter der Feldstation zeigte der Besuchergruppe die Einrichtung und demonstrierte den Arbeitsablauf vom Einfangen der Zugvögel in einem riesigen reusenartigen Netz bis zur Beringung.
Hatte Reiseführerin Natascha auf der Fahrt durch den Nehrungswald schon auf die „besoffenen“ Bäume hingewiesen, die durch den ständigen Wind alle in der gleichen Richtung schräg hängen, so konnten die Teilnehmer später den „tanzenden“ Wald bewundern: Aus ungeklärten Gründen wachsen hier viele der Kiefernstämme wie Korkenzieher. Von einer Aussichtsplattform auf der Höhe ließen sich die romantische Dünenlandschaft sowie das Haff und die Ostsee überblicken.
Die Samlandküste gab der Besuchergruppe bei Palmnicken/Jantarny Einblicke in die Bernsteingewinnung. Im ehemaligen Georgenswalde besichtigten die Kirchheimer das ehemalige Wohnhaus des in Stuttgart geborenen und von 1933 bis 1945 in Ostpreußen arbeitenden Bildhauers Hermann Brachert.
Der Besuch einer staatlichen Schule ermöglichte einen Einblick in den russischen Schulalltag und in eine Deutschstunde. Von deutschen Gehältern können russische Lehrer nur träumen; auch die Rente ist so niedrig angesetzt, dass viele im Rentenalter noch weiter arbeiten. Gespart wird jedoch nicht überall: Ein wunderbares Hallenbad im Keller der Schule und neueste Flachbildschirme in jedem Klassenzimmer machen deutlich, welcher Wert auf Bildung gelegt wird.
Über Insterburg/Tschernjachowsk fuhr die Reisegruppe nach Gumbinnen/Gussew, die Stadt mit dem berühmten Elchstandbild. Gleich zwei ausgezeichnete Kunstveranstaltungen erwarteten die Kirchheimer in Gussew: Rund um das bekannte Fresko war von jungen Kaliningrader Künstlern ein Kunstfestival inszeniert worden und im Saal der städtischen Kinderkunstschule konnte man anschließend Ballettdarbietungen und musikalische Beiträge auf sehr hohem Niveau bewundern. Nach einer Bootsfahrt erlebte die Reisegruppe noch einen Höhepunkt: Das wöchentliche Konzert des Domorganisten Artjom Chatschaturow an der barocken Domorgel.
Die Menschen im Kaliningrader Gebiet haben sich der Geschichte und den westlichen Besuchern inzwischen bereitwillig geöffnet – immer wieder wurde während der Reise der Wunsch nach gemeinsamen Projekten geäußert. Die wirtschaftliche Situation in der russischen Exklave Kaliningrad hat sich durch die Rezession sehr verschlechtert. Auffallend vor allem das brachliegende Ackerland, für das die Maschinen zur Bearbeitung fehlen. Am Ende der Reise waren sich die Teilnehmer einig, dass alle äußerst interessante Eindrücke vom Leben im Kaliningrader Gebiet gewinnen konnten, nicht zuletzt durch die herzliche Aufnahme.ha