Günter Geier ist bis zum heutigen Samstag im Neckarcenter – Der „Arzt“ praktiziert seit 55 Jahren
Puppendoktor heilt auch schwere Fälle

„Oh, die Christel von Schildkröt“, sagt Puppendoktor Günter Geier. Er kennt die Puppe, die die Dame aus Obertürkheim zu ihm ins Neckarcenter bringt, so gut wie jede andere. Schließlich behandelt er schon seit 55 Jahren. Christel hat es schwer erwischt, doch Heilung ist nahe.

Esslingen. Der Großvater war bei der Eisenbahn, also wollte Günter Geier als Kind Dampflokomotivführer werden. Stattdessen lernte er Schneider. Dann machte er ein Praktikum bei einem Puppendoktor. Das war vor 56 Jahren. Seit 55 Jahren praktiziert der 75-Jährige als selbstständiger Puppendoktor, ist von Altendorf bei Bamberg aus in Deutschland, Österreich und der Schweiz unterwegs. Sein Seat Alhambra ist sieben Jahre alt und hat bereits 358 000 Kilometer auf dem Tacho. Er hat fast alle seine Sitze verloren, denn der Platz wird für den Transport von mehr als 15 000 Ersatzteilen gebraucht.

„Ich mache das aus Liebe und Leidenschaft“, sagt Geier. Reich werden kann er mit seiner Tätigkeit nicht: Eine neue Stimme kostet acht Euro, neue Gummis für die Puppen 16 Euro. Davon müssen Steuer, Benzin, Materialkosten bezahlt sein. Doch parallel gibt es Rente, die Frau arbeitet als Fotografin, die Übernachtung tragen die Veranstalter.

Eine der ersten Kundinnen am Donnerstag im Neckarcenter in Esslingen-Weil war schon morgens um 7 Uhr gestartet, in Konstanz. Sie brachte eine mehr als 100 Jahre alte Puppe von der verstorbenen Tante, sehr gut erhalten. Die Puppe brauchte unter anderem eine neue Perücke. Weil die bisherige für die Ewigkeit verklebt war, rückte Geier den hartnäckigen Klebstoffresten mit der Feile zu Leibe. Zu den weiteren Hauptwerkzeugen zählen Zange, Pinzette und Skalpell – und das Stethoskop, das er einsetzt, wenn Kinder kommen. „Für sie sind Puppen Kinder“, sagt er, erfreut sie gerne mit dem Spruch, die Puppe habe ja „zwölfundneunzig Puls“. Immer wieder macht er den Benefizdoktor, spendet den gesamten Erlös eines Einsatzes für Kinderprojekte. Während des Balkankriegs hat er 110 Hilfstransporte organisiert – und fuhr jedes Mal mit, um die Verteilung zu überwachen. Rund 10 000 Augen hat Geier auf Vorrat, auch solche für Eisbären, Fische und Räuchermännchen. Mit Argusaugen bekommt er es immer zu tun, wenn er mit seinen Ersatzteilen durch den Schweizer Zoll muss.

Wo nimmt Geier seine Ersatzteile her? Manches kommt aus dem Internet oder von Flohmärkten, für Perücken gibt es noch eine Manufaktur in Bremen. Er hat auch noch einen deutschen Lieferanten für Stimmen. Bei beiden erwartet er den baldigen Ruhestand. So wie bei sich selbst: Ginge nur endlich der Herzenswunsch nach einem Nachfolger in Erfüllung, den er gerne einlernen würde. Egal ob Mann oder Frau. „Die Männer lachen einen aus, wenn man fragt“, sagt er, „Frauen haben mehr Fingerspitzengefühl.“

Gibt es auch unheilbar kranke Puppen? „Bei mir gibt es keinen Puppenfriedhof“, sagt Geier. Eine Puppe habe eben auch mal Narben, so wie Menschen auch. Wenn er Tränen erlebe, seien es immer nur Freudentränen. Nur einem Kunden konnte er vor ein paar Jahren nicht helfen. Er brachte seine aufblasbare Erotikpuppe, die ein Luftloch hatte. Das konnte Geier nicht flicken, empfahl dem Mann einen Fahrradhändler.

„Wollen sie erste oder zweite Klasse?“, fragte Geier eine Kundin, doch das ist nur ein Scherz. Bei ihm gibt es keine Zweiklassenmedizin. Die bereits erwähnte Christel, die mindestens 66 Jahre alt und in Obertürkheim zu Hause ist, wurde mit ihren kaputten Beinen und ihrem lädierten Gesicht umsichtig behandelt.

Die nächste Patientin hieß Erika, wie ihre Besitzerin. Sie hatte ein Loch im Kopf, die Enkelin war schuld. Leider waren die fehlenden Teile nicht mehr da. Also musste Geier Gaze unterlegen und das Loch mit Flüssigzelluloid schließen. Neue Gummis brauchte Erika auch. Was sie wert sei? Instand gesetzt etwa 220 bis 240 Euro, antwortete Geier. „Aber eine Puppe verkauft man nur, wenn man Hunger hat.“

Kann daraus wieder eine Puppe werden? Klar, und mit 32 Euro inklusive neuer Stimme und Augen blieb das sogar bezahlbar. „Da bin ich aber froh“, sagte die Kundin, die den Haufen Einzelteile aus den 1950er-Jahren aus dem Handtuch gewickelt hatte.Noch gibt Geier nicht auf, trotz nahendem Ruhestand, bis Juli ist er ausgebucht. Gibt es noch einen, der wie er als Puppen- und Teddydoktor auf Reisen geht? „Nein, ich bin der einzige.“ Die Teddys sind zwar eine Minderheit, werden aber genauso gerne verarztet. Gleich am Donnerstagmorgen bekamen die ersten ihren Stimmbruch kuriert.

Weitere Sprechstunden sind am heutigen Samstag von 9 bis 18 Uhr bei Decathlon im ersten Stock des Neckarcenters. Annahmeschluss für neue Patienten ist um 13 Uhr.